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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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sehen; sie hielten dabei den Atem an und gaben sich alle Mühe, selbst das leiseste Knarren des Fußbodens zu vermeiden. Clotilde war tatsächlich eingeschlafen, und sie schien so völlig erschöpft, daß die beiden alten Frauen sich ein Herz faßten. Aber sie fürchteten dennoch, sie durch eine leichte Berührung aufzuwecken, denn sie hatte ihren Stuhl ganz dicht an das Bett gestellt. Und es war zudem eine frevelhafte und schreckliche Tat, mit der Hand unter das Kopfkissen des Toten zu fassen und ihn zu bestehlen; Entsetzen erfaßte sie vor solchem Tun. Würde man ihn dabei nicht in seiner Ruhe stören müssen? Würde er sich bei der Erschütterung nicht bewegen? Dieser Gedanke ließ sie erbleichen.
    Félicité war schon mit ausgestrecktem Arm an das Bett getreten. Doch sie wich zurück.
    »Ich bin zu klein«, stammelte sie. »Versucht Ihr es doch, Martine.«
    Nun näherte sich das Dienstmädchen dem Bett. Doch es überkam sie ein so heftiges Zittern, daß auch sie umkehren mußte, um nicht zu fallen.
    »Nein, nein, ich kann nicht! Mir ist, als würde der Herr Doktor gleich die Augen aufmachen.«
    Erschauernd und verstört blieben sie noch eine Weile in dem von der großen Stille und der Majestät des Todes erfüllten Zimmer, blickten hin zu dem für immer reglosen Pascal und zu Clotilde, die unter dem erdrückenden Schmerz ihrer Witwenschaft zusammengebrochen war. Vielleicht enthüllte sich ihnen der Adel eines erhabenen, der Arbeit geweihten Lebens auf diesem stummen Haupt, das mit seinem ganzen Gewicht sein Werk behütete. Die Kerzen brannten mit sehr blasser Flamme. Dumpfes Entsetzen wehte sie an und trieb sie in die Flucht.
    Die so beherzte Félicité, die früher vor nichts zurückgeschreckt war, nicht einmal vor Blut, floh, als würde sie verfolgt.
    »Kommt, kommt, Martine. Wir finden etwas anderes, wir holen ein Werkzeug.«
    Im großen Arbeitszimmer atmete sie auf. Das Dienstmädchen erinnerte sich jetzt, daß auf dem Nachttisch vom Herrn Doktor der Schlüssel zum Sekretär liegen mußte; tags zuvor hatte sie ihn im Augenblick des Anfalls dort gesehen. Sie gingen nachsehen. Die Mutter öffnete bedenkenlos den Sekretär. Aber sie fand darin nur die fünftausend Francs, die sie im Schubfach liegenließ, denn das Geld interessierte sie wenig. Vergeblich suchte sie den Stammbaum, der, wie sie wußte, für gewöhnlich dort lag. Sie hätte ihr Vernichtungswerk so gern damit begonnen! Er war im Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch des Doktors liegengeblieben, aber sie mußte ihn übersehen, denn ein leidenschaftliches Fieber trieb sie, die verschlossenen Möbel zu durchwühlen, und ließ ihr nicht die umsichtige Ruhe, in ihrer nächsten Umgebung methodisch vorzugehen.
    Ihre Begierde führte sie zu dem Schrank zurück, sie pflanzte sich wiederum davor auf, maß ihn, umfaßte ihn mit glühendem Erobererblick. Trotz ihrer kleinen Gestalt und obwohl sie die Achtzig überschritten hatte, reckte sie sich mit außergewöhnlichem Tatendrang und Kraftaufwand in die Höhe.
    »Ach«, wiederholte sie, »wenn ich doch ein Werkzeug hätte!«
    Und wieder suchte sie den Riß, den Spalt, in den sie mit den Fingern hineinfahren könnte, um den Koloß auseinanderzusprengen. Sie dachte sich Angriffspläne aus, sie träumte von Gewaltanwendung, dann kam sie wieder auf die List zurück, irgendeine Tücke, die ihr die Türflügel öffnen würde, wenn sie nur einmal pustete.
    Plötzlich funkelten ihre Augen, sie hatte die Lösung gefunden.
    »Sagt mal, Martine, ist da nicht ein Haken, der den ersten Türflügel festhält?«
    »Ja, Madame, er greift in einen Ring über dem mittleren Brett … Sehen Sie, er befindet sich ungefähr in Höhe dieser Verzierung.«
    Félicité machte eine siegesgewisse Gebärde.
    »Ihr habt doch einen Bohrer, einen großen Bohrer? Gebt mir einen Bohrer!«
    Rasch ging Martine in die Küche hinunter und brachte das verlangte Werkzeug.
    »Seht Ihr, so macht das keinen Lärm«, sagte die alte Frau Rougon und begab sich an die Arbeit.
    Mit einer erstaunlichen Energie, die man ihren altersdürren kleinen Händen gar nicht zugetraut hätte, setzte sie den Bohrer an und bohrte in der von dem Dienstmädchen bezeichneten Höhe ein erstes Loch. Aber sie war zu tief geraten, sie merkte, daß die Spitze in das Brett eindrang. Beim zweiten Versuch stieß sie direkt auf das Eisen des Hakens. Diesmal war sie zu dicht dran. Und sie bohrte nun rechts und links noch mehrere Löcher, bis sie schließlich mit Hilfe des Bohrers den

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