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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Schlüssel zum Sekretär, in dem Sie die fünftausend Francs wiederfinden, die der Herr Doktor dort zurückgelassen hat … Oh, ich bin sicher, daß wir keine Schwierigkeiten miteinander haben werden. Der Herr Doktor hat mich seit drei Monaten nicht mehr bezahlt; ich habe Papiere von ihm, die das bezeugen. Außerdem habe ich in der letzten Zeit ungefähr zweihundert Francs aus meiner Tasche vorgestreckt, ohne daß er wußte, woher das Geld kam. Das alles ist aufgeschrieben, ich bin ganz unbesorgt, Mademoiselle wird mir gewiß keinen Centime schuldig bleiben … Übermorgen, wenn der Herr Doktor nicht mehr da ist, gehe ich fort.«
    Nun ging auch sie in die Küche hinunter, und obgleich dieses Mädchen in blinder Ergebenheit seine Hände zu einem Verbrechen hergegeben hatte, war Clotilde tief betrübt, daß sie von ihr so im Stich gelassen wurde. Dennoch erlebte sie eine Freude, als sie die Überreste der Akten aufsammelte, bevor sie ins Schlafzimmer zurückkehrte; denn plötzlich sah sie auf dem Tisch den Stammbaum ausgebreitet liegen, den die beiden Frauen nicht bemerkt hatten. Das war das einzige unversehrte Überbleibsel, eine heilige Reliquie. Sie nahm ihn an sich und schloß ihn mit den halb verbrannten Fragmenten in der Kommode im Schlafzimmer ein.
    Doch als sie sich wieder in diesem erhabenen Raum befand, überkam sie eine tiefe innere Bewegung. Welch ruhige Stille, welch unsterblicher Friede neben der zerstörerischen Roheit, die das Arbeitszimmer nebenan mit Rauch und Asche erfüllt hatte! Heilige Ruhe senkte sich aus dem Dunkel hernieder, die beiden Kerzen brannten mit stetiger reiner Flamme, ohne jedes Flackern. Und sie sah nun, daß Pascals Antlitz inmitten der ausgebreiteten Flut des weißen Bartes und des weißen Haares ganz weiß geworden war. Schlafend lag es im Licht, von einem Glorienschein umgeben, in erhabener Schönheit da. Sie neigte sich über ihn, küßte ihn noch einmal und spürte auf ihren Lippen die Kälte dieses marmornen Antlitzes mit den geschlossenen Lidern, das seinen Ewigkeitstraum träumte. Ihr Schmerz, daß sie das ihrer Obhut anvertraute Werk nicht hatte retten können, war so groß, daß sie schluchzend auf die Knie sank. Der Geist war geschändet worden, und ihr schien, als müsse nach dieser wilden Vernichtung eines ganzen der Arbeit geweihten Lebens die Welt der Zerstörung anheimfallen.
     

Kapitel XIV
    Im großen Arbeitszimmer hatte Clotilde ihrem Kind die Brust gegeben, und während sie es noch auf dem Schoß hielt, knöpfte sie ihr Mieder wieder zu. Es war nach dem Mittagessen, gegen drei Uhr, an einem strahlenden Tag Ende August mit glutheißem Himmel; durch die Ritzen der sorgfältig geschlossenen Fensterläden drangen nur dünne Sonnenpfeile in das ruhige, warme Dunkel des weiten Raumes. Der ungestörte tiefe Friede des Sonntags schien sich von draußen her mit einem fernen Glockenklang, den letzten Schlägen des Vesperläutens, auszubreiten. Kein Geräusch drang aus dem leeren Haus, in dem die Mutter und das Kind bis zum Abendessen allein sein sollten, da das Dienstmädchen um die Erlaubnis gebeten hatte, eine Cousine in der Vorstadt besuchen zu dürfen.
    Einen Augenblick betrachtete Clotilde ihr Kind, einen schon drei Monate alten kräftigen Knaben. Sie war in den letzten Maitagen niedergekommen. Seit bald zehn Monaten trug sie Trauer um Pascal, ein schlichtes, langes schwarzes Kleid, in dem sie göttlich schön war, so zart, so schlank mit ihrem jungen, traurigen, von dem wundervollen blonden Haar umstrahlten Gesicht. Sie konnte nicht lächeln, doch sie empfand süße Freude beim Anblick des dicken und rosigen schönen Kindes mit seinem noch milchfeuchten Mund, dessen Blick auf einen der Sonnenstreifen gefallen war, in dem Staubpünktchen tanzten. Es schien sehr erstaunt, es ließ diesen goldenen Glanz, dieses blendende Wunder an Helligkeit, nicht aus den Augen. Dann kam der Schlaf; das Kind ließ sein rundes, kahles Köpfchen, auf dem schon ein paar spärliche blaßblonde Haare sprossen, auf den Arm seiner Mutter zurücksinken.
    Clotilde stand leise auf und legte es in die Wiege neben dem Tisch. Über das Kind gebeugt, blieb sie einen Augenblick stehen, um ganz sicher zu sein, daß es schlief; und sie ließ in dem dämmerigen Dunkel den Musselinvorhang herunter. Geräuschlos, mit weichen Bewegungen, mit so leichtem Schritt, daß ihr Fuß kaum den Boden berührte, ging sie dann ihrer Arbeit nach, ordnete Wäsche, die auf dem Tisch lag, durchsuchte zweimal das Zimmer

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