Doktor Pascal - 20
schließlich aussehen?« Und sie selber verfiel wieder in Sinnen angesichts des Stammbaums, dessen äußerste Zweige in die Zukunft hineinragten. Wer konnte wissen, wo der gesunde Zweig treiben würde? Vielleicht brachte er den erwarteten Weisen, Mächtigen hervor.
Ein leiser Schrei riß Clotilde aus ihren Überlegungen. Der Musselin der Wiege schien sich mit einem Hauch zu beleben, das Kind war aus dem Schlaf erwacht, krähte und bewegte sich. Sogleich nahm sie es auf und hob es fröhlich hoch in die Luft, tauchte es in den goldenen Schein der untergehenden Sonne. Aber der Kleine hatte für die Schönheit des scheidenden Tages nichts übrig; seine ziellos blickenden Äuglein wandten sich vom weiten Himmel ab, während er seinen rosigen Schnabel eines immer hungrigen Vogels ganz weit aufsperrte. Und er weinte so laut, er erwachte mit so gierigem Hunger, daß Clotilde sich entschloß, ihm wieder die Brust zu geben. Im übrigen war es seine Zeit, seit drei Stunden hatte er nicht mehr getrunken.
Clotilde setzte sich wieder an den Tisch. Sie nahm den Kleinen auf den Schoß, wo er aber nicht stillhielt, sondern vor Ungeduld nur immer lauter schrie, und sie betrachtete ihn mit einem Lächeln, während sie ihr Kleid aufhakte. Die Brust kam zum Vorschein, die kleine runde Brust, die von der Milch kaum geschwellt war. Ein leichter bräunlicher Strahlenkranz schmückte einer Blüte gleich die Spitze der Brust im zarten Weiß dieser göttlich schlanken, jungen weiblichen Nacktheit. Erwartungsvoll hob das Kind den Kopf, suchte mit den Lippen. Als Clotilde seinen Mund an ihre Brust gelegt hatte, gab der Kleine einen leisen Laut der Befriedigung von sich und fiel über sie her mit dem schönen gefräßigen Appetit eines lebenshungrigen Wesens. Gierig saugte er mit aller Kraft seiner kleinen Kiefer. Mit seiner freien kleinen Hand hatte er die Brust gepackt, als wollte er sie als seinen Besitz kennzeichnen, verteidigen und behüten. In der Freude über das warme Geriesel, das ihm durch die Kehle rann, streckte er dann sein Ärmchen hoch in die Luft, wie ein Banner. Und Clotilde lächelte noch immer, ihr selber unbewußt, als sie sah, wie der kräftige kleine Kerl sich von ihr nährte. In den ersten Wochen hatte sie sehr an einer Schrunde gelitten; noch jetzt war die Brust empfindlich, aber sie lächelte trotzdem mit jenem friedlichen Ausdruck der Mütter, die glücklich sind, ihre Milch herzugeben, so wie sie ihr Blut hergeben würden.
Als sie ihr Mieder aufhakte und ihre Brust sich zeigte, ihre mütterliche Blöße, kam auch ein anderes Mysterium zum Vorschein, eines ihrer verborgensten und köstlichsten Geheimnisse: das zarte Halsband mit den sieben Perlen, die milchweißen Sterne, die ihr der Meister in seiner leidenschaftlichen Schenkwut an einem Tag des Elends um den Hals gelegt hatte. Niemand hatte es seither wieder gesehen. Es gehörte gleichsam zu ihrem Verschwiegensten, es war ein Teil von ihrem Fleisch, so kindlich und so schlicht. Und während das Kind trank, sah sie gerührt auf das Halsband und ließ die Erinnerung an die Küsse lebendig werden, deren warmen Duft es bewahrt zu haben schien.
Aus der Ferne herüberschallende Klänge setzten Clotilde in Erstaunen. Sie wandte den Kopf, schaute hinaus auf das Land, das ganz blond im goldenen Schein der sinkenden Sonne lag. Ach ja, der feierliche Akt, diese Grundsteinlegung! Und sie richtete den Blick wieder auf das Kind, gab sich von neuem ganz der Freude hin, es bei so gutem Appetit zu sehen. Sie hatte eine kleine Bank zu sich herangezogen, um einen Fuß hochzustellen, und sich mit der Schulter an den Tisch gelehnt, auf dem der Stammbaum und die verkohlten Bruchstücke der Akten lagen. Ihre Gedanken wanderten, schwelgten in himmlischer Süße, während sie spürte, wie ihr Bestes, diese reine Milch, mit leisem Geräusch dahinfloß und ihr das teure Wesen, das aus ihrem Schoß hervorgegangen war, immer mehr zu eigen machte. Das Kind war gekommen, vielleicht der Erlöser. Die Glocken hatten geläutet, die Heiligen Drei Könige hatten sich aufgemacht, gefolgt von allen Völkerschaften, von der ganzen festlich gestimmten Natur, und lächelten dem Kleinen in seinen Wickeltüchern zu. Und während er von ihrem Leben trank, träumte sie, die Mutter, schon von der Zukunft. Was würde aus ihm werden, wenn sie ihn dereinst groß und stark gemacht hätte, indem sie sich ganz hingab? Ein Wissenschaftler, der die Welt ein wenig von der ewigen Wahrheit lehren, ein Heerführer, der
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