Doktor Pascal - 20
sie Martine zu ihrem Erstaunen am Tisch sitzen, damit beschäftigt, den Sauerampfer für das Mittagessen zu verlesen. Unauffällig hatte sie ihren Platz als Dienstmädchen wieder eingenommen.
»Was war denn nur los mit dir?« rief Clotilde. »Wirst du jetzt endlich sprechen?«
Martine hob ihr von Tränen zerfurchtes trauriges Gesicht. Eine große Ruhe hatte sich indessen darüber gebreitet, und es verriet nur noch das trübselige Alter in seiner Resignation. Mit unendlich vorwurfsvollem Ausdruck blickte Martine das junge Mädchen an; dann senkte sie von neuem den Kopf, ohne zu sprechen.
»Bist du uns etwa böse?«
Und angesichts ihres düsteren Schweigens griff nun Pascal ein.
»Ihr seid uns böse, meine gute Martine?«
Da sah ihn die alte Magd wie früher voll Verehrung an, als liebte sie ihn genug, um alles zu ertragen und trotzdem zu bleiben. Und sie sagte:
»Nein, ich bin niemand böse … Der Meister ist frei. Wenn er zufrieden ist, ist alles gut.«
Das neue Leben spielte sich nun ein. Die fünfundzwanzigjährige Clotilde, die lange Zeit ein Kind geblieben war, erblühte in der köstlichen vollen Pracht ihrer Liebe. Seit ihr Herz gesprochen hatte, war aus dem klugen Jungen mit dem runden Kopf und dem kurzen gelockten Haar, der sie gewesen war, ein anbetungswürdiges Weib geworden, ein Weib, das geliebt sein will. Trotz ihres durch mancherlei Lektüre erworbenen Wissens war ihr großer Reiz ihre jungfräuliche Unbefangenheit, als hätte die unbewußte Erwartung der Liebe sie das Geschenk ihres Seins, ihr Aufgehen in dem Mann, den sie lieben würde, bewahren lassen. Gewiß hatte sie sich ebensosehr aus Dankbarkeit und Bewunderung wie aus Liebe hingegeben, glücklich darüber, Pascal glücklich zu machen, und die Freude auskostend, in seinen Armen nichts als ein kleines Mädchen zu sein, ein ihm gehöriger Gegenstand, den er vergötterte, ein kostbares Gut, das er in schwärmerischer Verehrung auf Knien küßte. Von dem frommen Mädchen von einst war ihr noch die fügsame Hingabe in die Hände eines bejahrten, allmächtigen Meisters geblieben, der ihr Trost und Kraft schenkte, wobei sie sich über das sinnliche Empfinden hinaus den heiligen Schauer der Gläubigen bewahrte, die sie noch immer war. Wie köstlich vor allem, daß die so fraulich, so hingebungsvoll Liebende auch gesund und fröhlich war, daß sie tüchtig essen konnte, daß sie ein wenig von der Robustheit ihres Großvaters, des Soldaten, mitbrachte und das Haus mit der Beschwingtheit ihrer Glieder, mit der Frische ihrer Haut, der schlanken Anmut ihrer Gestalt, ihres Halses, ihres ganzen jungen, göttlich frischen Körpers erfüllte.
Und Pascal war in der Liebe wieder schön geworden; er zeigte die ruhige Schönheit eines Mannes, der trotz seines weißen Haars noch voll Kraft ist. Er hatte nicht mehr jenes zerquälte Antlitz wie in den Monaten des Kummers und des Leidens, die er durchlebt hatte; er bekam wieder sein schönes Gesicht, seine lebendigen großen Augen, die noch so kindlich blickten, seine feinen Züge, aus denen die Güte strahlte, während sein weißes Haar, sein weißer Bart üppiger sprossen, in löwenhafter Fülle, deren schneeige Flut ihn verjüngte. Er hatte sich in seinem einsamen, einzig der Arbeit gewidmeten Leben so lange ohne Laster, ohne Ausschweifungen bewahrt, daß er nun fühlte, wie die zurückgedrängte Manneskraft in ihm wiedererstand und endlich voller Ungeduld Befriedigung suchte. Ein Erwachen riß ihn fort, ein jugendlicher Schwung, der in Bewegungen, Ausrufen, in einem ständigen Bedürfnis, sich zu verschwenden und zu leben, zum Ausbruch kam. Alles wurde wieder neu und bezaubernd für ihn, das kleinste Stückchen des weiten Horizonts entzückte ihn, eine einfache Blume berauschte ihn mit ihrem Duft, ein täglich gebrauchtes Liebeswort, durch die Gewohnheit abgeschwächt, rührte ihn zu Tränen, als wäre es eine ganz neue Erfindung des Herzens, die Millionen Münder nicht hatten welk werden lassen. Clotildes »Ich liebe dich« war eine nie endende Liebkosung, deren überirdische Wonne niemand auf der Welt kannte. Und mit der Gesundheit, mit der Schönheit war auch seine Heiterkeit zurückgekehrt, jene ruhige Heiterkeit, die er früher seiner Liebe zum Leben verdankt hatte und die heute von seiner Leidenschaft, von allen Gründen, die ihn das Leben noch besser finden ließen, überstrahlt wurde.
Sie beide, die blühende Jugend und die reife Kraft, so gesund, so heiter, so glücklich, bildeten ein strahlendes
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