Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
schöner, ihr Glück lachte der ganzen Stadt.
    Eines Nachmittags, als Pascal und Clotilde in die Rue de la Banne einbogen, erblickten sie auf der gegenüberliegenden Seite Doktor Ramond. Sie hatten gerade tags zuvor erfahren, daß er Fräulein Lévêque, die Tochter des Anwalts, heiraten wollte. Das war ganz gewiß der vernünftigste Entschluß, denn seine Stellung erlaubte ihm nicht, noch länger zu warten; zudem liebte ihn das junge Mädchen, das sehr hübsch und sehr reich war. Und auch er würde sie gewiß lieben. Deshalb freute sich Clotilde sehr und lächelte ihm zu, um ihn als gute Freundin zu beglückwünschen. Mit einer herzlichen Gebärde hatte Pascal ihn gegrüßt. Durch die Begegnung etwas verwirrt, war Ramond einen Augenblick unschlüssig. Seine erste Regung war, über die Straße zu gehen. Dann mußte ihm wohl der zartfühlende Gedanke gekommen sein, daß es rücksichtslos wäre, ihren Traum zu stören, in diese Einsamkeit zu zweit einzubrechen, die sie selbst im Gedränge auf den Gehsteigen bewahrten. Und er begnügte sich mit einem freundschaftlichen Gruß, mit einem Lächeln, mit dem er ihnen ihr Glück verzieh. Das war für alle drei sehr wohltuend.
    In der Zeit arbeitete Clotilde mehrere Tage lang an einem großen Pastell, auf dem sie die rührende Szene mit dem alten König David und Abisag, der jungen Sunamitin, darstellte. Es war eine Traumdarstellung, eine jener verstiegenen Kompositionen, in denen ihr anderes Ich, das versponnene, seinen Hang zum Mysterium zum Ausdruck brachte. Auf dem Hintergrund verstreuter Blüten von wilder Pracht, die in einem Sternenregen niedergingen, war der alte König von vorn dargestellt, die Hand auf der nackten Schulter Abisags, und das weißhäutige Kind war bis zum Gürtel nackt. Er, prunkvoll gekleidet in ein ganz glatt herabfallendes, von Edelsteinen schweres Gewand, trug den königlichen Stirnreif in seinem schneeweißen Haar. Aber sie war noch prächtiger mit der lilienweißen Seide ihrer Haut, mit ihrer zierlichen schlanken Gestalt, ihrer runden kleinen Brust, ihren biegsamen Armen voll göttlicher Anmut. Er war der Herrscher, er stützte sich als mächtiger und geliebter Gebieter auf die unter allen erwählte Untertanin, die so stolz war, daß man sie ausersehen hatte, und so entzückt, ihrem König das stärkende Blut ihrer Jugend schenken zu dürfen. Ihre schlichte, triumphierende Nacktheit drückte die Erhabenheit ihrer Unterwerfung aus, die ruhige, unbedingte Hingabe ihrer Person vor dem versammelten Volk, im hellen Licht des Tages. Er war sehr mächtig und sie sehr rein, und es ging von ihnen ein Strahlen aus wie von einem Stern.
    Bis ganz zuletzt hatte Clotilde die Gesichter der beiden Personen ohne deutliche Züge gelassen, als läge ein Wolkenschleier darüber. Pascal, der bewegt hinter ihr stand, neckte Clotilde, da er sehr wohl ahnte, was sie zu tun beabsichtigte. Und es war auch so, mit einigen Bleistiftstrichen vollendete sie die Gesichter: der alte König David war er, und sie war Abisag, das junge Mädchen aus Sunam. Doch sie blieben eingehüllt in eine traumhafte Helligkeit. Sie beide waren es in vergöttlichter Darstellung; ihre weiße und blonde Haarfülle umgab sie wie ein kaiserlicher Mantel, mit verzücktem Antlitz waren sie zur Glückseligkeit der Engel entrückt, mit dem Blick und dem Lächeln unsterblicher Liebe.
    »Ach, liebes Kind!« rief er aus. »Du malst uns allzu glücklich, du hast dich wieder einmal ins Land der Träume begeben, ja, erinnerst du dich, wie in den Tagen, als du all die wunderlichen Blumen des Mysteriums dort hingehängt hast.«
    Und er zeigte auf die Wände, an denen der phantastische Blumengarten der alten Pastellmalereien erblühte, jene unerschaffene Flora, die mitten im Paradies emporgesprossen war.
    Aber sie widersprach fröhlich.
    »Allzu schön? Wir können gar nicht zu schön sein! Glaub mir, so empfinde ich uns, so sehe ich uns, und so sind wir auch … Da, sieh nur, ob das nicht die reine Wahrheit ist!«
    Sie hatte die alte Bibel aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die neben ihr lag, zur Hand genommen und deutete auf den naiven Holzschnitt.
    »Da siehst du, es ist ganz das gleiche.«
    Er lachte heimlich über ihre außergewöhnliche Beweisführung, bei der sie ganz ruhig blieb.
    »Oh, du lachst, du klammerst dich an Einzelheiten der Darstellung. Es ist der Geist, in den man eindringen muß … Und sieh nur die anderen Bilder an, da ist es ebenso! Ich werde Abraham und Hagar malen, ich werde Ruth und

Weitere Kostenlose Bücher