Dokument1
war alles nur ein Traum, aus dem er bald wieder erwachen würde.
Festgenommen, Man trieb ihn zu einem Polizeiwagen. Leute, die vorbeifuhren, gafften ihn an …
Verzweifelte, kindische Tränen, heißes Salz wallten hoch und schnürten ihm die Kehle zu.
Seine Brust bewegte sich krampfhaft - einmal, zweimal.
Der Cop, der ihm seine Rechte vorgelesen hatte, faßte ihn an der Schulter, und Arnie schüttelte die Hand ab. Er hatte das Gefühl, wenn er sich nur rasch genug ganz tief in sich selbst zurückziehen konnte, würde er okay sein - doch Mitleid mochte ihn vielleicht in den Wahnsinn treiben.
»Fassen Sie mich nicht an!«
»Wie du es haben möchtest, mein Sohn«, antwortete der Beamte und nahm seine Hand wieder weg. Er öffnete eine Tür des Streifenwagens und schob Arnie auf den Rücksitz.
Weint man auch im Traum? Natürlich - hatte er nicht davon gelesen, daß Leute aus einem Traum mit tränennassen Gesichtern aufwachten? Aber Traum oder nicht Traum - er würde nicht weinen. Statt dessen würde er an Christine denken. Nicht an Mutter oder Vater, nicht an Leigh oder Will Darnell, nicht an Slawson - nein, nicht an diese elenden Scheißer, die ihn verraten hatten. Nur an Christine …
Arnie schloß die Augen, verdeckte sein blasses, verzerrtes Gesicht mit den Händen und tat, was er sich vorgenommen hatte. Und wie stets, wenn er an Christine dachte, wurde alles gleich besser. Nach einer Weile konnte er sich sogar aufrichten und die vorübergleitende Landschaft betrachten, während er über seine Lage nachdachte.
Michael Cunningham legte langsam den Hörer auf die Gabel zurück - mit unendlicher Sorgfalt -, als könnte bei der gering-sten Erschütterung eine darin eingebaute Zeitbombe explodieren und sein Arbeitszimmer im ersten Stock mit schwarzen Plastik-Schrapnellkugeln verwüsten.
Er lehnte sich im Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch zurück, auf dem seine IBM-Kugelkopfmaschine stand, sein Aschenbecher mit der Inschrift HORLICKS UNIVERSITY in Gold auf blauem Untergrund, kaum lesbar unter der grauen Puderschicht aus Asche, und das Manuskript seines dritten Buches, eine Studie der beiden gepanzerten Schiffe Monitor und Merrimac aus der Anfangszeit der Dampfschiffahrt. Er hatte gerade die Hälfte des Blattes vollgetippt, als das Telefon läutete. Nun löste er die Sperre der Druckwalze und zog das Blatt mit einem Ruck heraus und legte es auf die übrigen Manuskriptseiten, die nicht viel mehr waren als ein Dschungel an gekritzelten Korrekturen.
Draußen heulte kalter Wind ums Haus. Die relative Wärme des bewölkten Dezembermorgens war nun einem frostigen, wolkenklaren Dezemberabend gewichen.
Der tauende Schneematsch war glashart wie ein Zeitschloß, und sein Sohn wurde in Albany festgehalten, und zwar wegen Schmuggels, nein, Mr. Cunningham, es handelt sich nicht um Marihuana, sondern um Zigaretten. Um zweihundert Stangen Winston-Zigaretten ohne Steuerbanderolen.
Im Erdgeschoß konnte er das Rattern von Reginas Nähmaschine hören. Er würde nun aufstehen, an die Tür gehen und sie öffnen müssen. Und dann den Flur entlang bis zur Treppe, die Treppe hinunter, durch das Eßzimmer, und dann in die kleine Stube mit den vielen Pflanzen auf dem Fensterbrett, die früher als Bügelzimmer gedient hatte und heute eine Nähstube war. Und dort würde er dann eine Weile neben der Nähmaschine stehenbleiben, bis Regina zu ihm hochsah (sie würde ihre Halbbrille tragen), und dann würde er sagen: »Regina, Arnie ist von der New Yorker Staatspolizei verhaftet worden.«
Michael versuchte, den Prozeß, den er in Gedanken entwik-kelt hatte, in die Tat umzusetzen, indem er sich von seinem Stuhl erhob; doch der Stuhl schien zu spüren, daß er nicht konzentriert zur Sache ging. Er drehte sich und rollte weg, so daß Michael sich an der Schreibtischkante festhalten mußte, um nicht auf den Boden zu plumpsen. Er ließ sich wieder auf die Sitzfläche fallen, während sein Herz mit beängstigender Schnelligkeit zu pochen begann. Zugleich überrollte ihn eine so umfassende Welle aus Verzweiflung und Trauer, daß er laut aufstöhnte und sich an die Stirn faßte. Die alten Gedanken überfielen ihn wie ein Mückenschwarm im Sommer. Vor einem halben Jahr war alles noch in Ordnung gewesen. Jetzt saß sein Sohn sogar irgendwo in einer Gefängniszelle. Was waren die auslösenden Momente für diese Wende gewesen? Wie hätte er, Michael, den Lauf der Dinge aufhalten können? Wie war es überhaupt dazu gekommen? Wo hatte sich die
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