Dokument1
Krankheit ein-schleichen können?
»Jesus …«
Er preßte alle fünf Finger gegen die Schläfen und lauschte auf das Brausen des Winterwindes vor dem Fenster. Er und Arnie hatten erst im vergangenen Monat die Fensterläden eingehängt. Das war ein guter Tag gewesen, oder etwa nicht? Erst hatte Arnie die Leiter gehalten, dann war er unten gewesen und Arnie oben, und er hatte zu ihm hinaufgerufen, daß er vorsichtig sein soll, während der Wind in seinen Haaren wühlte und vertrocknete braune Blätter über seine Schuhe wehte. Ja, das war ein guter Tag gewesen. Selbst nachdem dieser gräßliche Wagen aufgetaucht war, der anscheinend alles im Leben ihres Sohnes überschattete wie eine tödliche Krankheit, hatte es noch gute Tage gegeben. War es nicht so?
»Jesus«, sagte er abermals mit einer schwachen, tränenüber-lagerten Stimme, die er so sehr verabscheute.
Ungebetene Bilder stiegen hinter seinen Augen auf. Kollegen, die ihn schräg von der Seite ansahen, sogar hinter seinem Rücken flüsterten. Diskussionen bei Cocktailpartys, bei denen sein Name hochgeschwemmt wurde wie eine Wasserleiche.
Arnie würde erst in knapp zwei Monaten achtzehn sein. Das bedeutete vermutlich, daß sein Name in der Zeitung nicht genannt werden durfte. Trotzdem würde es jeder wissen. So etwas sprach sich herum.
Plötzlich, verrückt, sah er Arnie als kleines Kind von vier Jahren auf einem roten Dreirad, das er und Regina auf einem Flohmarkt gekauft hatten (und in der Erinnerung fügte sich eine weitere Erinnerung hinzu: Arnie hatte mit vier Jahren von
»Go-Cart« gesprochen, weil er mit dem Begriff »Flohmarkt«
nichts anzufangen wußte). An vielen Stellen war der rote Lack schon abgesplittert, und der Rost schimmerte hindurch. Auch die Reifen waren abgefahren; aber Arnie hatte das Dreirad geliebt; hätte es sogar mit ins Bett genommen, wenn das möglich gewesen wäre. Michael schloß die Augen und sah Arnie mit seiner blauen Cordlatzhose auf dem Dreirad sitzen und draußen auf dem Bürgersteig auf- und abfahren, während ihm die Haare dabei in die Augen flogen, und dann schien sein inneres Auge zu zucken oder zu zwinkern oder wurde einen Moment lang trübe, und als das Bild wieder klar wurde, war aus dem rostigen Flohmarkt-Dreirad Christine geworden mit Rostflecken im stumpfen roten Lack und milchtrüben Fensterscheiben.
Er preßte knirschend die Zähne zusammen. Jemand, der ihn durchs Fenster beobachtet hätte, mochte glauben, er grinste wie ein Wahnsinniger. Er wartete, bis er sich wieder einigerma-
ßen in der Gewalt hatte, stand dann auf und ging nach unten, um Regina mitzuteilen, was geschehen war. Er würde es ihr sagen, und sie würde überlegen, was in diesem Fall zu tun sei, wie sie es stets in kritischen Fällen getan hatte; sie würde ihm die Aktion aus der Hand nehmen und damit auch den Trost, den man aus dem Tun schöpfen kann, und ihm würde der lähmende Schmerz der Untätigkeit überlassen sein, die niederschmetternde Erkenntnis, daß sein Sohn für ihn ein Fremder geworden war.
41 Der Sturm zieht auf
She took the keys to my Cadillac car,
Jumped in my kitty and drove her far.
- Bob Seger
Auf einer breiten, leicht vorausberechenbaren Schneise durch das obere Drittel der Vereinigten Staaten zog der erste verheerende Sturm dieses Winters von Nordosten herauf und erreichte Libertyville am Heiligen Abend. Der Tag begann sonnig bei leichten Minustemperaturen, doch die morgendli-chen Muntermacher, die Discjockeys, kündigten bereits um sieben Uhr früh fröhlich die Wetterkatastrophe an und empfah-len allen, die letzten Weihnachtseinkäufe spätestens bis drei Uhr nachmittags zu erledigen. Wer in die Stadt seiner Väter wollte, um auf stille altmodische Weise Weihnachten zu feiern, dem wurde dringend nahegelegt, den Plan zu überdenken, falls die Reise länger als vier bis sechs Stunden dauerte.
»Wenn Sie den Heiligabend nicht in einer Schneewächte auf der Standspur der Fernstraße 76 irgendwo zwischen Bedford und Carlisle verbringen wollen, müssen Sie schon sehr früh losfahren oder gar nicht«, empfahl der Discjockey auf 104 Mgh seinen Zuhörern (von denen der überwiegende Teil bereits so blau war, daß sie gar nicht mehr fahren konnten) und setzte dann die Weihnachtsparty mit der Springsteen-Version von
»Santa Claus is Corning to Town« fort.
Um 11 Uhr, als Dennis Guilder endlich das Libertyville-Hospital verlassen durfte (nach der Hausordnung durfte er seine Krücken erst benützen, wenn er das
Weitere Kostenlose Bücher