Dokument1
Gebäude verlassen hatte; deshalb wurde er von Elaine in einem Rollstuhl bis zum Ausgang geschoben), hatte der Himmel sich schon mit hoch-fliegenden Federwolken bedeckt, und die Sonne war von einem eigenartig bläulich-roten Ring umgeben. Dennis überquerte vorsichtig mit seinen Krücken den Parkplatz, flankiert von Vater und Mutter, die jeden seiner Schritte ängstlich beobachteten, obwohl der Platz penibel und üppig mit Salz bestreut war, daß sich nicht ein Stäubchen Schnee darauf halten konnte.
Er blieb neben dem Familienwagen stehen und hob sein Gesicht in den auffrischenden Wind. Draußen zu sein war für ihn wie eine Wiederauferstehung. Er hätte stundenlang hier stehen können und immer noch nicht genug gehabt.
Gegen ein Uhr nachmittags hatte der Familiencaravan der Cunninghams die Stadtgrenze von Ligonier, neunzig Meilen östlich von Libertyville, erreicht. Der Himmel war um diese Zeit ein sanftes, schneeschwangeres Schiefergrau, und die Temperatur war inzwischen sechs Grad unter null.
Es war Arnies Idee gewesen, den traditionellen Heiligabend-Besuch bei Onkel Steve und Tante Vicky, Reginas Schwester und deren Mann, nicht abzusagen. Die beiden Familien hatten mit den Jahren ein lockeres Ritual entwickelt, wobei Vicky und Steve ein paar Jahre lang zu den Cunninghams kamen, und die Cunninghams ab und an nach Ligonier fuhren. Diesmal war der Besuch wegen »Arnies Problem«, wie Regina es hartnäckig nannte, zunächst abgesagt worden, doch zu Beginn der Weih-nachtswoche hatte Arnie unermüdlich für diese Reise nach Ligonier plädiert.
Schließlich, nach einem langen Telefongespräch mit ihrer Schwester am Mittwoch, hatte Regina dem Wunsch ihres Sohnes nachgegeben - größtenteils deswegen, weil Vicky sehr besonnen und verständnisvoll wirkte und überhaupt nicht neugierig war, die Wahrheit zu erfahren. Das gab den Aus-schlag für Regina - war viel wichtiger, als sie je eingestanden hätte. In der Woche nach Arnies Festnahme im Nachbarstaat New York hatte sich Regina einer schier endlosen Flut widerlicher Neugierde erwehren müssen, die sich als Sympathie verkleidete. Beim Gespräch mit Vicky war sie völlig aufgelöst und hatte geweint. Es war das erste- und einzigemal, daß sie sich diesen bitteren Luxus erlaubte. Arnie war um diese Zeit schon im Bett gewesen und hatte geschlafen, Michael, der in jüngster Zeit viel trank und das auf die »vorweihnachtliche Feststimmung« schob, war mit Faul Strickland - wie Michael ein Opfer der Horlicks’schen Fakultätspolitik und abgeblitzter Kandidat für einen höheren Posten - in O’Malleys Bar gegangen, um dort ein oder zwei Glas Bier zu trinken. Garantiert würden es sechs werden oder sogar acht, wenn nicht zehn. Und wenn sie später hinaufging in sein Arbeitszimmer, würde er dort kerzengrade an seinem Schreibtisch sitzen und mit trockenen, aber blutunterlaufenen Augen durch das Fenster in die Nacht hinausstar-ren. Wenn sie versuchte, mit ihm ein Gespräch anzufangen, würde er nur erschreckend verschwommenes Zeug reden, das sich zu sehr um die Vergangenheit drehte. Sie hatte den Verdacht, ihr Mann habe einen sehr schnell verlaufenden geistigen Zusammenbruch erlitten. Sie würde sich diesen Luxus nicht erlauben (denn in ihrem eigenen verletzten und wütenden Zustand hielt sie das dafür), und Nacht für Nacht tickte es in ihrem Kopf bis drei oder vier Uhr morgens, schmiedete sie rastlos Pläne. Ihre rastlose Gedankenarbeit diente nur einem einzigen Ziel, nämlich die beiden »über das hinwegzuschau-keln«. So rastlos sie dieses Ziel verfolgte, so merkwürdig scheu war sie, den Tatbestand zu definieren. So sprach sie nur entweder von »Arnies Problem« oder von »über das hinwegschaukeln«.
Aber als Regina ein paar Tage nach der Verhaftung ihres Sohnes mit ihrer Schwester Vicky am Telefon redete, kam ihre eiserne Selbstbeherrschung doch vorübergehend ins Schwanken. Sie weinte sich sozusagen fernmündlich an Vickys Schulter aus, und Vicky spendete ihr auf eine ruhige Art Trost, und Regina machte sich Vorwürfe, weil sie jahrelang über ihre Schwester schnöde Bemerkungen losgelassen hatte. Vicky, deren einzige Tochter schon im ersten Semester vom College abgegangen war, um zu heiraten und eine Hausfrau zu werden; deren einziger Sohn sich damit begnügte, eine handwerk-liche Ausbildung mit dem Meisterbrief abzuschließen. (So etwas nie für ihren Sohn! hatte Regina frohlockend gedacht.) Vicky, deren Mann - mein Gott, wie lächerlich - Lebensversi-cherungen
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