Dokument1
Schlafstadt, in der sich die Leute gegenseitig in die Töpfe guckten. Die Leute, meist irgendwie mit der Horlicks-Universität verbunden, wußten natürlich, wer für Will Darnell arbeitete, wer jenseits der Staatsgrenze in New York mit einem Kofferraum voll unversteuerter Zigaretten festgenommen worden war. Für Regina war es ein Alptraum.
Arnie wurde - nach einem kurzen Umweg zum Untersu-chungsgefängnis und nach Hinterlegung von tausend Dollar als Kaution - der Obhut seiner Eltern übergeben. Es war nur ein großes beschissenes Monopoly-Spiel. Seine Eltern hatten aus dem Gemeinschaftsfach die Karte »Du kommst aus dem Gefängnis frei« herausgefischt. Wie erwartet.
»Worüber lächelst du, Arnie?« fragte Regina. Michael fuhr mit dem Familien-Caravan im Tempo eines schnellen Fußgängers die Straße hinunter und versuchte, im Schneetreiben Steve und Vickys Holzhaus auszumachen.
»Habe ich gelächelt?«
»Ja«, erwiderte sie und berührte sein Haar.
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er zerstreut, und sie nahm die Hand wieder zurück.
Er war am Sonntag wieder nach Hause gekommen, und seine Eltern hatten ihn die meiste Zeit in Ruhe gelassen, weil sie entweder nicht wußten, wie sie mit ihm reden sollten, oder weil sie von ihm entsetzt waren… oder vermutlich war es eine Kombination von beidem. Ihm war es egal. Er fühlte sich erschöpft, ausgelaugt, .-nur noch ein Schatten seiner selbst.
Seine Mutter war zu Bett gegangen und hatte den ganzen Sonntagnachmittag über geschlafen, nachdem sie den Telefonhörer von der Gabel genommen hatte. Sein Vater kramte in seiner Werkstatt herum, und Arnie hörte ihn gelegentlich die elektrische Hobelmaschine einschalten, und dann war es wieder totenstill.
Arnie saß im Wohnzimmer und sah sich eine Konferenz-schaltung zweier Football-Spiele im Fernsehen an, er wußte nicht, wer gegen wen spielte, und auch das war ihm egal. Ihm genügte es, die Spieler herumrennen zu sehen, zuerst unter strahlender, warmer kalifornischer Sonne, dann in einem Schneeregenschauer, der das Spielfeld in einen Morast verwandelte und die weißen Markierungslinien ausradierte.
So gegen sechs Uhr nachmittags schlummerte er ein.
Und träumte.
Er träumte in dieser und in der folgenden Nacht in dem Bett, in dem er seit frühester Kindheit schlief, mit der Ulme vor dem Fenster, die einen ihm vertrauten Scharten warf (in den Winter-monaten ein Skelett, dem Anfang Mai auf wundersame Weise jedesmal neues Fleisch auf den Knochen wuchs). Diese Träume waren nicht vergleichbar mit dem Traum von dem Riesen Will, der am Schaltpult über einer Miniatur-Autobahn thronte. Er konnte sich an diese Träume nur ein paar Sekunden lang nach dem Aufwachen erinnern. Vielleicht war das ganz gut so. Eine Gestalt am Straßenrand; ein fleischloser Finger, der ungeduldig auf einen skelettierten Handrücken trommelte; ein unsicheres, banges Gefühl von Freiheit und… Flucht? Ja, Flucht. Nichts als…
Ja, er flüchtete aus diesen Träumen und kehrte in die Wirklichkeit immer mit dem gleichen, sich wiederholenden Bild zurück: Er saß hinter dem Lenkrad von Christine, fuhr langsam durch einen heulenden Schneesturm, durch einen Flockenwirbel, der so dicht war, daß er buchstäblich nicht weiter als bis zum Ende der Motorhaube sehen konnte. Der Wind war kein Heulen, sondern hörte sich viel unheimlicher an, wie ein dröhnender, orgelnder Baß. Dann hatte sich das Bild bereits wieder verändert. Der Schnee war kein Schnee mehr; es war das weiße Band einer Straßenabsperrung. Und das Dröhnen des Windes war nun der Jubel einer großen Menge, die sich links und rechts der Fifth Avenue hinter der Absperrung drängte. Sie ließ ihn hochleben. Sie jubelten Christine zu. Sie jubelten, weil er und Christine… er und Christine…
Geflüchtet waren.
Jedesmal, wenn dieser konfuse Traum in die Wirklichkeit überblendete, dachte er: Wenn das alles vorbei ist, steige ich aus.
Ich steige ganz bestimmt aus. Ich fahre nach Mexiko. Mexiko erschien ihm wirklicher als seine Träume, während er sich die ländliche Stille und die beständige Heiterkeit seiner Sonne vorstellte.
Unmittelbar nach dem Aufwachen aus dem letzten dieser Träume war ihm die Idee gekommen, daß sie Weihnachten mit Tante Vicky und Onkel Steve verbringen sollten, so wie in den guten alten Tagen. Mit dieser Idee erwachte er, und sie hallte mit eigenartiger Beharrlichkeit in seinem Kopf nach. Die Idee schien unglaublich gut zu sein und von allergrößter
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