Dolch und Münze (01): Das Drachenschwert (German Edition)
wich dem süßen Gerbduft der Eislilie und dem fernen Vorgeschmack von Salz, den das Meer brachte.
Er legte sich zurück auf seine Schlafstatt und wartete darauf, dass der Traum verblich. Er befasste sich mit seinem Körper, wie er es sich seit langem angewöhnt hatte. In seiner Kehle ging die würgende Enge als Erstes zurück, dann in seiner Brust. Der stechende Schmerz in den Eingeweiden wurde langsam leichter und verschwand. Bald gab es nur noch die ständige Leere unter seinen Rippen, und er wusste, dass er wieder sicher stehen konnte.
Es waren die Narben einer Schlacht. Manche Männer hatten ein Bein oder eine Hand verloren. Manche Männer verloren die Augen. Marcus hatte eine Familie verloren. Und genauso wie alte Soldaten wussten, wann Regen kam, weil geheilte Knochen ihnen Schmerzen bereiteten, litt er jetzt. Es hatte nichts zu bedeuten. Es war einfach sein ganz persönliches schlechtes Wetter, und wie schlechtes Wetter würde es vorübergehen. Die Träume wurden nur für den Augenblick schlimmer.
Tief in der Nacht schlief die Karawane, sowohl Fuhrleute als auch Maultiere. Das Wachfeuer glitzerte auf einer Hügelflanke weiter oben, nicht heller als ein Stern, aber orangefarben anstatt blau. Marcus machte sich in diese Richtung auf. Das trockene Gras wisperte an seinen Stiefeln, und Feldmäuse huschten davon. Yardem Hanes Umrisse zeichneten sich vor dem kleinen Feuer ab; er hatte sich abgewandt, so dass das Licht seinen Blick nicht trübte. Neben ihm saß eine weniger vertraute Gestalt. Marcus trat nahe genug heran, um Worte herauszuhören.
»Die Form einer Seele?«, fragte Meister Kit. »Ich glaube, ich verstehe nicht, was Ihr meint.«
»Genau das. Eine Seele hat eine Form«, sagte Yardem. Seine breiten Hände tätschelten die Luft vor ihm. »Und das Schicksal wird davon gestaltet. Was immer die Welt einem bringt, die Form der Seele legt fest, was man damit tut und welche Handlungen man vornimmt, um sein Schicksal zu gestalten …«
Marcus bewegte einen Fuß, den er laut genug über den Boden schleifen ließ, um sich anzukündigen.
»Morgen, Hauptmann«, sagte Yardem, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Setzt du unserem Kundigen deine abergläubischen Flausen in den Kopf?«
»Ja, Herr.«
»Passt auf, Kit«, sagte Marcus und trat in den trüben Lichtkreis. »Yardem ist einmal ein Priester gewesen, müsst Ihr wissen.«
Meister Kits Augenbrauen hoben sich, und er blickte fragend von Marcus zu Yardem. Der Tralgu zuckte beredt mit den Schultern.
»Ist schlecht ausgegangen«, sagte Yardem.
»Es ist kein Glauben, von dem ich schon einmal gehört hätte«, erklärte Meister Kit. »Ich muss sagen, dass ich den Gedanken faszinierend finde. Welche Form hat denn Eure eigene Seele?«
»Ich habe meine Seele nie gesehen«, sagte Yardem.
Marcus setzte sich. Die Wärme des Feuers drang an seinen Rücken. Hoch über ihnen zog ein fallender Stern seine Spur von Ost nach West, war schon beinahe verglüht, ehe Marcus ihn entdeckte. Die Stille fühlte sich plötzlich unbehaglich an.
»Mach schon«, sagte Marcus. »Erzähl’s ihm, wenn du willst.«
»Mir was erzählen?«, fragte Meister Kit.
»Ich habe die vom Hauptmann gesehen. Ich war am Tag der Schlacht in Wodfurt. Der Hauptmann ist vorübergeritten, hat den Trupp durchgezählt, und … ich hab sie gesehen.«
»Und welche Form hatte sie?«, fragte Meister Kit.
»Ein Kreis, der auf seiner Kante stand«, sagte Yardem.
»Was hat das für Euch für eine Bedeutung?«
»Dass er aufsteigt, wenn er niedergeworfen wird, und fällt, wenn er hoch oben steht«, erklärte Yardem.
»Er hat magische Visionen gebraucht, um das zu sehen«, sagte Marcus. »Für die meisten Leute ist das einfach Tatsache.«
»Aber jedes Mal?«, fragte Meister Kit. »Wenn Gott die Form der Seele eines Menschen ändern wollte, dann würde es doch sicher …«
»Ich habe Gott nie gesehen«, sagte Yardem.
»Aber Ihr glaubt an ihn«, sagte Meister Kit.
»Ich halte mich mit meiner Beurteilung zurück«, antwortete Yardem.
Meister Kit dachte darüber nach. »Und was ist mit Euch, Hauptmann?«, fragte er. »Man hört Geschichten, dass Ihr einst ein frommer Mann gewesen seid.«
»Ich ziehe es vor, als Akt der Barmherzigkeit nicht mehr an irgendwelche Götter zu glauben«, sagte Marcus.
»Barmherzigkeit wem gegenüber?«
»Den Göttern gegenüber. Es scheint mir boshaft zu glauben, dass sie keine bessere Welt als diese erschaffen konnten«, erklärte Marcus. »Haben wir noch etwas zu essen
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