Dolch und Münze (02): Königsblut (German Edition)
sollte. Es wurde Gerechtigkeit geübt, man machte eine Runde durch die Dörfer und Höfe und entwarf einen Plan für die Verwaltung des Besitzes im nächsten Jahr. Und all das so schnell wie möglich, damit man fertig war, sobald die königliche Jagd begann und sie alle zum entsprechenden Landsitz eilten – oder, wenn sie Pech hatten, ihr eigenes Heim darauf vorbereiteten, den König und seine königlichen Jäger in Empfang zu nehmen –, um dann bis zum ersten Tau Eber und Hirsche zu verfolgen.
Es gab keine Zeit des Rastens, und Clara wusste nicht, wie sie das schafften. Wie ihr Gemahl das schaffte.
Für sie waren die kurzen Tage und langen Nächte die Zeit des Jahres, in der sie ruhen konnte. Sich erholen. Wochenlang vor und nach der längsten Nacht schlief Clara lange und tief. Sie verbrachte die Tage damit, vor dem Feuer zu sitzen, ihre Finger beschäftigt mit Stickarbeit, ihr Geist in Ruhe. Die Stille des Winters war ihr Refugium, und der Gedanke an ein Jahr, in dem sie ausfiel, rief das gleiche Unbehagen hervor wie eine Nacht ohne Schlaf. Sie war inzwischen eine ältere Frau, und ihre grauen Haare wuchsen nicht mehr so spärlich, dass es sinnvoll war, sie auszuzupfen. Ihre Tochter war verheiratet und hatte ein Kind. Aber selbst als sie jung gewesen war, hatte Clara gewusst, dass der Winter die Zeit war, in der sie der Welt fernblieb.
Und der Frühling war die Zeit ihrer Rückkehr.
»Es hat schon immer religiöse Kulte gegeben«, sagte sie. »Lady Ternigan ist mit den Avischen Mysterien aufgewachsen, und sie schienen ihr nie besonders geschadet zu haben.«
»Ich mache mir nur Sorgen, dass kein Silber mehr für die richtigen Priester übrig bleibt«, erklärte Lady Casta Kiriellin, die Gräfin von Lachloren. »Euer Sohn wird doch zum Priester ausgebildet, Clara?«
»Vicarian«, pflichtete Clara bei. »Aber er hat immer gesagt, dass es so viele Arten der Religion gibt, wie es Ausübende gibt. Ich bin sicher, wenn etwas Neues aufkommt, ist er gut darauf vorbereitet, auch diese Riten zu erlernen.«
Lady Joen Mallian, die jüngste der Gruppe, beugte sich vor. Ihre Haut war blass wie Gänseblümchen und ließ jeden Tropfen Blut in ihren Wangen erkennen. Es ging das üble Gerücht, dass sie eine Cinnae zur Großmutter hatte.
»Ich habe gehört«, flüsterte sie, »dass die Avischen Mysterien verlangen, dass man seine eigene Pisse trinkt.«
»So wie Lady Ternigans Tee schmeckt, möchte ich daran nicht zweifeln«, sagte Casta Kiriellin, und sie lachten alle. Sogar Clara. Es war unnötig und gemein, aber Issa Ternigan trug in der Tat die merkwürdigsten Tees auf.
Die Gesellschaft war zu siebt, und jede von ihnen war in ein neues Gewand in leuchtenden Farben gekleidet. Für Clara waren diese Tage immer wie ein religiöser Ritus: das Zwitschern, der Tratsch und die leuchtenden Farben, die man trug, als wolle man durch das Nachahmen einer Blütenpracht die Knospen herbeirufen. Die Gärten gehörten Sara Kop, der Witwe des Grafen von Anes, die am Kopf der Tafel saß, gekleidet in ein Spitzengewand, so leuchtend rein und weiß wie das Haar der alten Frau. Sie war schon seit Jahren so taub wie ein Stein und sagte nie etwas, aber sie lächelte oft und schien die Gesellschaft zu genießen.
»Clara, Liebes«, sagte Lady Kiriellin, »ich habe ein höchst unwahrscheinliches Gerücht gehört: Dein Jüngster will um Sabiha Skestinin werben. Das kann doch nicht stimmen?«
Clara nahm einen langen Schluck aus ihrer Teetasse, ehe sie antwortete. »Jorey hat eine formelle Vorstellung erhalten«, erklärte sie. »Ich treffe mich heute Nachmittag mit dem Mädchen, obwohl das natürlich alles nur Form und Etikette ist. Ich kenne sie schon entfernt, seit sie gehen kann. Es will mir nicht in den Kopf, weshalb wir uns mit dem ganzen rituellen Gewese abgeben, um so zu tun, als würden wir jemanden kennenlernen, den wir eigentlich schon gut kennen, vor allem, wenn Dawson derjenige ist, den sie eigentlich gewinnen muss. Aber Tradition ist Tradition, nicht wahr?«
Sie lächelte und hob den Kopf, dann wartete sie. Wenn jemand die Vergangenheit des Mädchens zur Sprache bringen wollte, dann würde es jetzt passieren. Aber es gab nur höfliches Lächeln und verhüllte Blicke. Joreys unglückselige Verbindung zu dem Mädchen war nicht unbemerkt geblieben, aber es war auch nichts, das offene Verachtung oder falsche Betroffenheit auslöste. Das war gut zu wissen, und sie legte dieses Wissen sorgfältig weit hinten in ihrem Gedächtnis ab,
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