Dolly - 01 - Dolly sucht eine Freundin
war, daß Evelyn jetzt Dolly
richtig haßte. Nie im Leben war sie von jemandem geschlagen
worden, nicht einmal von ihrer Mutter! Sicher wäre es für die
boshafte, selbstsüchtige Evelyn besser gewesen, wenn sie als Kind
einmal ein paar Klapse bekommen hätte, doch das war versäumt
worden. Und nun erschienen ihr die paar Schläge von Dolly als eine
gewaltige Beleidigung, die unbedingt gerächt werden mußte. Eines Tages werde ich es ihr heimzahlen, dachte sie. Und wenn ich
noch so lange darauf warten muß!
Das dritte Ergebnis der Sache im Bad war, daß Alice infolge ihres
langen Tauchens tatsächlich ganz schwerhörig wurde. Sie wußte, daß
das nicht lange anhalten würde.
Plötzlich würde es in ihren Ohren ,Plop’ machen, und dann hörte sie
wieder so gut wie sonst. Inzwischen aber war es eine sehr
unangenehme Aussicht, daß sie gerade jetzt, nachdem sie die Taubheit
nur gespielt hatte, wirklich schwerhörig wurde. Was würde
Mademoiselle wohl diesmal sagen?
Zum Unglück saß Alice hinten in der Klasse, in der vorletzten
Reihe. Mit normalem Gehör konnte man zwar auch in der letzten
Reihe alles gut verstehen, aber Alice mit ihren “versperrten” Ohren –
wie sie sagte – fand es äußerst schwierig, jedes Wort aufzufangen. Die Geschichte wurde noch schlimmer, weil diesmal nicht
Mademoiselle Dupont Französisch gab, sondern Mademoiselle
Rougier, die große, dünne Lehrerin. Sie hatte selten gute Laune. Das
verrieten schon ihre schmalen Lippen, die stets fest zusammengepreßt
waren. Komisch – überlegte Alice -, daß schlechtgelaunte Menschen
fast immer schmale Lippen haben. Mademoiselle Rougier hatte eine
leise Stimme, die jedoch sehr laut werden konnte, wenn sie böse war.
Dann wurde sie heiser wie eine Krähe.
Heute nahm sie den Anfang eines französischen Spieles durch. Die
Schülerinnen mußten gewöhnlich in jedem Halbjahr eines lernen – mit
verteilten Rollen. Manchmal wurde es bei Schulfeiern aufgeführt, oft
aber auch nur in der Klasse.
“Wir wollen also heute das Spiel durchsprechen”, begann
Mademoiselle Rougier, “und vielleicht auch die Rollen verteilen. Falls
welche von den Neuen in Französisch gut sind, können sie die
Hauptrollen übernehmen. Das wäre doch sehr schön, und ich bin
überzeugt, daß von den älteren keine etwas dagegen hat.”
Bestimmt nicht! Je weniger sie zu lernen hatten, desto besser! Die
neuen Schülerinnen lächelten süßsauer. Sie fanden Mademoiselle
Rougiers kleine Scherze nicht sehr witzig.
“Zuerst wollen wir überlegen, wer beim letztenmal die Hauptrollen
spielte”, sagte Mademoiselle. “Welche Rolle hattest du, Alice?” Alice hörte nichts, deshalb antwortete sie auch nicht. Betty stieß sie
an. “Welche Rolle du beim letzten Mal hattest?” sagte sie laut. “Verzeihung, Mademoiselle, ich hatte Sie nicht verstanden”, sagte
Alice. “Ich war der Schäfer.”
“War das nicht beim vorletzten Mal?” fragte Mademoiselle
Rougier.
Alice konnte wieder nicht verstehen, was die Lehrerin sagte. Betty
wiederholte es laut: “Mademoiselle sagte, das wäre doch beim
vorletzten Mal gewesen.”
Mademoiselle war erstaunt. Warum mußte alles, was sie sagte, von
Betty wiederholt werden? Dann plötzlich fiel ihr etwas ein:
Mademoiselle Dupont hatte ihr von Alices Streich erzählt – O ja, von
diesem nichtsnutzigen, garstigen Mädchen! Sie hatte sich taub gestellt,
nicht wahr? Das war zu arg. So etwas durfte nicht geduldet werden! “Alice”, sagte sie und fuhr mit der Hand über ihren Haarknoten, “du
bist ein lustiges Mädchen und stellst lustige Dinge an, n’est ce pas?
Aber ich, ich bin auch lustig und tue lustige Dinge. Darum möchte im
gern, daß du mir fünfzigmal in Französisch und in Schönschrift
aufschreibst: ,In Mademoiselle Rougiers Stunde darf ich nicht
schwerhörig sein’.”
“Was sagten Sie, Mademoiselle?” fragte Alice, die kaum mehr als
ihren Namen gehört hatte. “Ich konnte es nicht ganz verstehen.” “O dieses boshafte Geschöpf!” schrie Mademoiselle plötzlich ganz
wütend, wie es bei ihr leicht vorkam. “Alice, écoutez bien – höre gut
zu! Du sollst mir aufschreiben: ,In Mademoiselle Rougiers Stunde
darf ich nicht schwerhörig sein.’ Hundertmal.”
“Aber zuerst sagten Sie ,fünfzigmal’”, rief Betty entrüstet. “Und du
auch. Du wirst hundertmal aufschreiben: ,Ich darf nicht
dazwischenreden!” wütete Mademoiselle. Die Klasse schwieg. Sie
kannte Mademoiselle Rougier in dieser Stimmung. Bald würde sie
irgendeiner
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