Dolly - 04 - Dolly, die Klassensprecherin
auch vom Unterricht.
Eine Weile dachte Evelyn über schwache Herzen nach, und
langsam entstand in ihr ein Plan. Warum sollte sie nicht verbreiten,
daß sie Herzschmerzen hätte? Sie legte ihre Hand dorthin, wo sie ihr
Herz vermutete, und setzte eine tödlich erschrockene Miene auf. Was
sollte sie sagen? „Ach, mein Herz flattert wieder. Wenn es das doch
nur nicht immerzu täte! Mir wird dann jedesmal so merkwürdig.
Warum bin ich auch bloß so schnell die Treppe hinaufgelaufen!“ Je mehr sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr diese Idee.
Zum nächsten Wochenende kamen die Eltern. Falls sie diese
Geschichte mit ihrem schwachen Herzen gut genug verbreitete,
erfuhren es ihre Mama und ihr Papa gewiß. Sie würden sie mit nach
Hause nehmen. Dann versäumte sie die Prüfungen, die bald danach
stattfanden!
Schritt für Schritt machte Evelyn den anderen klar, daß sie sich
nicht wohl fühlte. „Nichts Schlimmes“, sagte sie zu Clarissa und Will. „Du wirst am besten wissen, wie ich mich fühle, Clarissa – es ist eine Art Herzflattern! Warum bin ich auch vorhin die Treppe so schnell
hinaufgelaufen!“
Clarissa hatte sofort Mitleid. Sie wußte, wie krank ein schwaches
Herz jemand machen konnte. „Willst du es nicht Fräulein Wagner
sagen?“ fragte sie. „Oder Fräulein Pott? Oder der Hausmutter?“ „Nein“, antwortete Evelyn und setzte eine betont tapfere Miene auf.
„Ich will kein Aufhebens davon machen. Außerdem, weißt du, sind ja
bald die Prüfungen. Die darf ich nicht versäumen.“
Wären Alice, Susanne oder Dolly in der Nähe gewesen, hätten sie
das mit Gelächter quittiert. Will und Clarissa aber hörten ernsthaft zu. „Ich finde doch, daß du etwas davon sagen müßtest“, meinte
Clarissa. „Wenn du das gleiche durchgemacht hättest wie ich –
wochenlang liegen, nichts tun können, nicht reiten und schwimmen
dürfen, und das waren meine liebsten Sportarten –, dann würdest du
nicht wagen, mit einem anfälligen Herzen leichtsinnig zu sein.“ Wenn Evelyn eine aus der Klasse oben an der Treppe entdeckte,
rannte sie schnell hinauf. Oben angekommen, legte sie die Hand auf
die linke Seite, hängte sich übers Geländer und stöhnte.
„Seitenstechen?“ fragte Alice dann ohne Mitleid. „Bück dich und
faß die Zehen an, Evelyn. Ach so – du bist zu ungelenk dafür, nicht
wahr?“
Marlies aber fragte: „Was ist los, Evelyn? Wieder dein Herz? Du
solltest wirklich etwas dagegen tun!“
In Gegenwart von Fräulein Wagner oder Fräulein Pott führte
Evelyn solche Szenen nicht auf. Sie wußte, daß sie keinen Erfolg
damit haben würde. Aber bei Mademoiselle versuchte sie es. Mademoiselle war ganz aufgeregt, als sie eines Morgens Evelyn in
der Nähe ihres Zimmers oben auf der Treppe sitzen fand, die Hand
aufs Herz gepreßt und laut stöhnend.
„Ma petite! Meine arme Kleine! Was hast du?“ rief sie. „Bist du
verletzt? Wo?“
„Es… es ist schon gut, Mademoiselle“, keuchte Evelyn. „Es ist
nichts… nur mein dummes Herz. Wenn ich laufe oder etwas
Anstrengendes tue… dann… dann schlägt es so komisch!“
„Arme Kleine, was hast du?“ fragte Mademoiselle
„Du hast Herzklopfen! Dann bist du blutarm!“ rief Mademoiselle. „Das war bei mir auch so, als ich fünfzehn war. Komm mit zur Hausmutter. Sie wird dir eine gute Arznei geben, die dein Blut frisch und rot macht.“
Aber Evelyn wollte ihr Blut nicht „frisch und rot“ gemacht bekommen. Das war das Allerletzte, was sie wünschte. Sie stand schnell auf und lächelte Mademoiselle an.
„Jetzt ist es schon vorbei!“ sagte sie. „Es ist keine Blutarmut, Mademoiselle – ich bin nie blutarm gewesen. Es ist nur mein dummes Herz. Ich fürchte, das liegt bei uns in der Familie.“
Das stimmte ganz und gar nicht, doch Evelyn sagte es, um Mademoiselle zu überzeugen, daß ihr Herz und nicht ihr Blut in Unordnung war. Mademoiselle riet Evelyn, am Nachmittag dann lieber nicht Tennis zu spielen.
Evelyn war erfreut. Doch als sie es genau bedachte, beschloß sie, es sei besser, doch zu spielen, weil Susanne vielleicht nicht an das kranke Herz glaubte. Sicherlich würde Mademoiselle früher oder später darüber sprechen – und dann würde ihre Mama sie, Evelyn, ängstlich danach fragen. Und wenn sie ihre Karten nur richtig ausspielte, nahm ihre ängstliche Mutter sie sofort mit nach Hause!
An den Kummer und die Sorge ihrer Eltern durch ihre törichte Schwindelei dachte Evelyn nicht. Sie wollte nur den Prüfungen entgehen. Wenn sie sich
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