Dolly - 05 - Dollys großer Tag
der ersten Klasse, etwas getan hat, wofür sie in späteren Jahren ins Gefängnis hätte kommen können. Etwas, was nur ganz gemeine und feige Charaktere tun können. Es ist das gleiche, als ob man jemandem hinterrücks ein Messer in den Rücken sticht.”
„Wenn Erwachsene so etwas tun, nennt man das ,mit vergifteter Feder schreiben’”, fuhr sie fort. „Solche Leute sind allgemein verhaßt und geächtet. Hast du das gewußt?”
„Nein”, flüsterte Irmgard.
„Ich würde nicht so ernst mit dir sprechen, wenn es nicht noch andere Dinge gäbe, die mir an dir sehr mißfallen”, fuhr Fräulein Pott mit harter Stimme fort. „Dein Ungehorsam, dein Trotz, dein Widerspruchsgeist, das Fehlen jeglichen Respektes für irgend jemand. Dir kommt das vielleicht mutig und großartig vor. Das ist es aber nicht. Und zu all dem hast du dich auch als Feigling erwiesen, denn nur ein Feigling schreibt anonyme Briefe.”
Irmgard zitterten die Knie. Fräulein Pott bemerkte es, aber sie nahm keine Notiz davon. Irmgard hatte eine ordentliche Strafpredigt nötig. „Die Angelegenheit muß Frau Direktor Greiling gemeldet werden”, fügte sie hinzu. „Komm jetzt mit mir. Es wird dich vielleicht interessieren zu erfahren, wie wir dahintergekommen sind. Mademoiselle fand diesen Zettel hier.”
Irmgard warf einen schnellen Blick auf den Brief an Felicitas. „Ich habe ihn ihr nicht gegeben”, sagte sie dann. „Ich wollte es erst, aber dann habe ich es doch nicht getan. Ich muß ihn in einem Buch liegengelassen haben.”
„Die Sonne bringt alle unsere Sünden an den Tag”, sagte Fräulein Pott ernst. „Immer. Und jetzt komm mit.”
„Fräulein Pott… werde ich… werde ich von der Schule fliegen?” fragte Irmgard. Sie war mit einem Mal nicht mehr zuversichtlich und unverschämt, sondern sehr niedergeschlagen.
„Das liegt bei Frau Direktor Greiling”, antwortete Fräulein Pott und erhob sich. „Komm mit.”
Die Nachricht verbreitete sich rasch in der fünften Klasse. „Irmgard hat die Briefe geschrieben, das kleine Biest!”
„Sie ist zur Frau Direktor gerufen worden! Ich wette, daß sie von der Schule fliegt. Sie ist sowieso zu nichts nütze.”
Am Abend stürzte Felicitas ins Wohnzimmer der Fünften. Sie schwamm in Tränen. „Dolly!” rief sie aus und wartete gar nicht die Antwort auf ihr Klopfen ab. „Dolly… Irmgard fliegt von der Schule! Wirklich! Frau Direktor hat es ihr gesagt. Oh, Dolly… ich mag sie nicht, aber es ist schrecklich, daß sie hinausgeworfen wird.”
Die Mädchen schauten einander entgeistert an. Sie stellten sich Irmgard vor, wie sie packte, verstört und verängstigt. Frau Greiling mußte sehr schlimme Dinge über sie gehört haben, daß sie so weit ging, ohne ihr noch eine Chance zu geben.
„Dolly! Susanne! Alice! Könnt ihr nicht zur Frau Direktor gehen und sie bitten, Irmgard noch eine Chance zu geben?” weinte Felicitas, und eine dicke Träne fiel auf den Teppich.
Martina hatte mit den anderen zugehört. So war es also wirklich Irmgard gewesen! Sie sah sich nach Evelyn, Margret und Katja um, den drei Mädchen, die sie verdächtigt hatte. Sie war erleichtert, daß es nicht eine von ihnen war. Und noch größer war ihre Erleichterung, daß es nicht ihre Schwester Birgit war.
Aber angenommen, sie wäre es gewesen? Dann würde Birgit jetzt ihre Koffer packen… Birgit würde jetzt fassungslos sein. Dann müßten jetzt ihre eigenen Eltern traurig sein, weil ihre Tochter aus der Schule geflogen war.
Martina erhob sich. „Ich gehe und spreche mit Frau Greiling”, sagte sie. „Ich werde es nicht zulassen, daß Irmgard die Schule verlassen muß. Ich werde sie bitten, ihr noch eine Chance zu geben. Schließlich… ich selbst war in diesen Wochen ziemlich unangenehm… Es war eine ganze Menge Wahrheit in den Briefen. Irmgard muß bestraft werden. Aber nicht so hart.”
Sie verließ den Raum und ließ ein tiefes Schweigen hinter sich. Felicitas rannte hinter ihr her und nahm ihre Hand. Martina drückte sie.
„Oh, Martina… alle sagen, daß du hart und unfreundlich bist… aber du bist es nicht, du bist es überhaupt nicht!” sagte die kleine Felicitas. „Du bist freundlich und großzügig und gut, und ich werde das allen in der ersten Klasse erzählen!”
Niemand hat je erfahren, was sich zwischen Frau Greiling, Martina und Irmgard abspielte, denn keine der drei erzählte es. Aber am Ende durfte Irmgard ihre Sachen wieder auspacken. Sie war sehr eingeschüchtert und dankbar.
Und Martina
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