Dolly - 06 - Abschied von der Burg
schicken, wo sie nette Freunde treffen würde. So hatte sie ihren ganzen Einfluß aufgeboten, um Evelyn den Rücken zu stärken. Es hatte Tränen und nochmals Tränen gegeben, Vorwürfe, Trotz, häßliche Worte. Frau Lessing hatte böse Dinge gesagt und Evelyn noch mehr hinzugefügt. Sogar die alte Hauslehrerin, Fräulein Winter, die Evelyn doch anbetete und von Frau Lessing das Beste dachte, war schockiert gewesen.
Dies alles schilderte Evelyn ihren unwilligen Zuhörern. „Fräulein Winter war blöd. Alles, was sie herausbrachte, war: ,Dein Vater ist müde, Evelyn, er fühlt sich manchmal nicht wohl. Wäre es nicht besser, ihn nicht traurig zu machen?’ Sie ist dumm und ein Waschlappen. Aber so ist sie immer gewesen.“
„Halt den Mund!“ sagte Susanne. „Ich würde mich schämen, meinen Vater so zu behandeln!“
„Ich habe zu ihm gesagt: Bin ich nicht deine einzige Tochter? Mißgönnst du mir, das eine Jahr glücklich zu sein?“ fuhr Evelyn fort und steigerte sich in ihre Rolle hinein. „Ich habe gesagt: Du liebst mich nicht. Du hast mich nie geliebt! Wenn du mich liebhättest, würdest du mir diesen kleinen Wunsch nicht abschlagen.“
„Halt den Mund! habe ich gesagt“, wiederholte Susanne. „Wir wollen das nicht hören. Dein Verhalten ist gemein!“
„Du bist ängstlich, Susanne, nicht wahr?“ meinte Evelyn und lachte selbstgefällig. „Du hättest sicher nicht den Mut, dich gegen deinen Vater zu behaupten!“
„Wenn man in einem Boot sitzt, ist das auch gar nicht nötig“, sagte Susanne kurz.
„Erzähle nur weiter, Evelyn“, sagte Margret aus ihrer Ecke. „Es ist so interessant. Du sprichst so erwachsen!“
Margrets Beifall überraschte Evelyn; sie fühlte sich geschmeichelt und merkte gar nicht, daß Margret sie vor den anderen nur vollends unmöglich machen wollte. Margret sah, wie angewidert die anderen waren, und ihr selber ging es genauso. Obwohl sie sonst Evelyn manchmal bewunderte – dies ging zu weit! Margret liebte ihre Eltern sehr. Soll Evelyn nur schwatzen! dachte sie. Dieses schreckliche Geschöpf! Sie stellt sich ja nur selber bloß.
Evelyn redete weiter und wiederholte, zu Margret gewandt, voller Triumph alle häßlichen Dinge, die sie zu ihrem Vater gesagt hatte.
„Ich bohrte weiter, bis ich meinen Willen bekam“, sagte sie. „Einen ganzen Tag blieb ich im Bett, und Mama sagte ihm, ich würde richtig krank werden, wenn das so weiterginge. Daraufhin kam Papa zu mir und sagte: ,Nun gut. Du sollst deinen Willen haben. Du hast recht, und ich habe unrecht. Du kannst in die Schweiz auf diese Schule gehen.’“
Niemand schenkte ihr Glauben. Niemand sagte etwas – außer Margret.
„Was für ein Sieg, Evelyn!“ sagte sie. „Ich wette, danach war alles in Butter.“
„Ja, wenn mein Vater Ruhe gegeben hätte!“ antwortete Evelyn und sah ein bißchen verwirrt aus. „Aber er ging gekränkt und schwermütig herum und hat kaum noch mit uns gesprochen. Er hatte es natürlich darauf abgesehen, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Da hatte er sich aber verrechnet. So kann ich auch, habe ich gedacht, und bin ganz kalt zu ihm gewesen. Als er bei Schulbeginn zurückfuhr, habe ich mich kaum verabschiedet. Wenn man in unser Alter kommt, muß man seinen Eltern einfach entgegentreten!“
Dolly stand unvermittelt auf. Ihr war richtig übel. Sie dachte an ihren Vater, den freundlichen, hart arbeitenden Arzt, der seine Frau und seine beiden Töchter zärtlich liebte. Wie würde ihm zumute sein, wenn sie, Dolly, plötzlich gegen ihn aufstünde und so häßliche Dinge zu ihm sagte?
Es würde ihm da5s Herz brechen! dachte Dolly. Und ich bin sicher, es hat auch Herrn Lessing das Herz gebrochen. Sicher liebte er Evelyn, obwohl sie gemein und egoistisch ist. Wie konnte sie sich nur so benehmen?
Sie sprach Evelyn an, und ihre Stimme ließ alle aufhorchen: „Evelyn, ich möchte dir etwas sagen. Komm bitte mit in mein Zimmer.“
Evelyn war überrascht. Was wollte Dolly von ihr? Sie war unschlüssig, stand dann aber auf. Vor der aufrichtigen Dolly hatte sie etwas Angst.68
Dolly führte Evelyn auf ihr Zimmer. Sie hatte sich an Frau Greilings Wor9te erinnert. Vielleicht konnte sie jetzt, bei dieser Gelegenheit, versuchen, Evelyn zu beeindrucken und ihr zu zeigen, daß sie den falschen Weg eingeschlagen hatte. Dolly fühlte sich ganz sicher, daß sie die richtigen Worte fände.
„Setz dich in diesen Sessel, Evelyn“, sagte sie. „Ich habe mit dir zu reden.“
„Ich hoffe, du willst mir keine Predigt
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