Dolly - 13 - Ueberraschung auf der Burg
was in dem Brief stand.
„Wo war das Mädchen bisher? Kommt sie direkt aus Asien?” erkundigte sich Dolly vorsichtig. „Und welche Sprache spricht sie?”
„Mit der Sprache gibt es zum Glück keine Schwierigkeiten. Sie lebt schon seit einiger Zeit in unserem Lande”, sagte Frau Direktor Greiling. „Sie scheint auch schon in einem anderen Internat gewesen zu sein. Sie… sie hat ihren Aufenthaltsort während des Exils wohl mehrmals wechseln müssen. Man erwartet von uns, daß wir über ihren Aufenthalt hier strengstes Stillschweigen bewahren. Das Mädchen wird unter einem anderen Namen bei uns leben.”
„Also fürchtet man, daß sie noch verfolgt wird?” fragte Dolly erschrocken.
„Davon steht nichts in dem Brief”, meinte die Direktorin ausweichend. „Vielleicht geht es der königlichen Familie nur darum, daß das Kind keine Sonderstellung einnimmt und von den anderen als ihresgleichen betrachtet wird.”
„Hoffen wir es”, murmelte Dolly.
„Ich frage mich…” Frau Direktor Greiling stand auf und ging nachdenklich zum Fenster hinüber. „Ich frage mich immer wieder, ob wir überhaupt in der Lage sind, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Die Verantwortung ist zu groß.” Dolly schwieg eine Weile. Dann richtete sie sich lebhaft auf.
„Selbstverständlich müssen wir das tun! Wenn man bedenkt, was das arme Kind hat durchmachen müssen! Es ist ganz einfach unsere Pflicht, uns um das Mädchen zu kümmern! Wenn sie hier nicht Geborgenheit und Ruhe findet, um all das Schreckliche zu vergessen, wo sonst? Und gerade meine Mädchen aus der Zweiten halte ich für fähig, der kleinen Ausländerin Freundschaft und Wärme entgegenzubringen. Sie sind ganz besonders aufgeschlossen und kameradschaftlich. Wenn ich bedenke, wie viele von ihnen am Anfang selbst mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Mona und Olivia, Susu, Charlie und Isabella…”
„Daran dachte ich auch”, unterbrach die Direktorin sie. „Aber wie wollen Sie bewältigen, das Inkognito unserer kleinen Prinzessin zu wahren, nichts von ihrem furchtbaren Schicksal durchblicken zu lassen und die Mädchen trotzdem zur nötigen Rücksichtnahme zu veranlassen?”
„Was das betrifft, mache ich mir keine Sorgen. Die Mädchen in meiner Zweiten haben ein feines Gespür für die Nöte eines anderen. Mona, Olivia und Susu, vor allem aber auch Vivi, sind für ihr Alter ungewöhnlich vernünftig, und man kann sich auf sie verlassen. Sorgen mache ich mir allenfalls, wie sich die kleine Asiatin mit unseren Lebensgewohnheiten abfindet. Nun, das muß man abwarten. Wenn sie unsere Sprache spricht, ist uns schon viel geholfen.”
„Sie meinen also, ich kann zusagen?”
„Ja”, sagte Dolly fest. „Ich übernehme die Verantwortung.”
Als Dolly einige Minuten später das Arbeitszimmer der Direktorin verließ und den langen, dunklen Flur hinunterlief, der zum Treppenhaus führte, wurde sie von einer plötzlichen Unruhe überfallen. Der Hall ihrer Schritte in dem großen, leeren Gebäude hatte etwas Unheimliches. Früher als sonst schien sich der Tag zu verabschieden, dicke graue Wolken senkten sich auf die Türme der Burg, und ganz sacht fing es an zu schneien.
Wie ein Echo klangen die feierlichen Beteuerungen in ihr nach. Ich übernehme die Verantwortung! hatte sie gesagt. Hatte sie sich das wirklich überlegt? Oder waren einmal wieder ihre Gefühle mit ihr davongaloppiert, ehe sie dazu kam, in aller Ruhe das Für und Wider zu erwägen? Sie mußte sofort mit Klaus über die Angelegenheit sprechen.
Dolly sprang in Windeseile die Treppen hinunter und stemmte die schwere Eichentür auf, die in den Innenhof hinausführte. Schneeflocken wirbelten ihr entgegen, legten sich wie ein weißer Federschmuck in ihre dunklen Haare und stoben ihr ins Gesicht. Dolly atmete tief die frische Winterluft ein, als sie zum Nordturm hinüberging. Hoffentlich blieb der Schnee liegen. Was für herrliche Spaziergänge würde sie mit den Mädchen machen, Schneeballschlachten, Schlittenfahrten und einen Wettbewerb, wer die schönsten Skulpturen aus Schnee bauen konnte! Und die kleine Prinzessin aus Fernost? Die würden sie und die Mädchen behutsam in ihre Mitte nehmen und sie ganz einfach fühlen lassen, daß es hier Menschen gab, die sie beschützten und sich um sie sorgten. Nicht nur äußerlich sollten sich die jahrhundertealten Mauern von Burg Möwenfels wie eine sichere Zuflucht um sie schließen. Eine Schutzmauer aus Liebe sollte sie auf Schritt und Tritt vor allen
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