Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
zwischen den beiden gerechnet, wenn sie heranwuchs und anfing, seine Ideen und das, was er für seine Rechte über sie hielt, mehr und mehr in Frage zu stellen.
    Stattdessen gab es eine kurze Zeit des Friedens und der Stille und des guten Einvernehmens zwischen ihnen, wenn sie rausging und zusah, wie er hinter dem Haus an seinen Schrottkisten werkelte, oder wenn sie neben ihm auf der Couch saß, wenn wir abends fernsahen (was Little Pete ganz und gar nicht gefiel, das kann ich euch versichern), und ihn während der Werbespots fragte, was er an dem Tag gemacht hatte. Er antwortete ihr auf eine ruhige, nachdenkliche Art, die ich nicht gewöhnt war. Sie erinnerte mich an die Zeit auf der High School, damals, als ich ihn kennenlernte und er zu dem Entschluß kam, mir den Hof zu machen.
    Um die gleiche Zeit zog sie sich von mir zurück. Oh, sie erledigte nach wie vor die Arbeiten, die ich ihr aufgetragen hatte, und manchmal erzählte sie auch von ihrem Tag in der Schule - aber nur, wenn ich mir Mühe gab und es aus ihr herauszerrte. Da war eine Kälte, die es früher nicht gegeben hatte, und erst viel später wurde mir klar, wie alles zusammenpaßte und wie alles auf den Abend zurückging, an dem sie aus ihrem Schlafzimmer gekommen war und uns gesehen hatte, ihren Dad mit der Hand am Ohr und Blut, das ihm durch die Finger tropfte, und ihre Mom, die mit einem Beil vor ihm stand.
    Ich sagte es schon, er war kein Mann, der eine günstige Gelegenheit vorbeigehen ließ, ohne sie auszunützen, und das war eine davon. Er hatte Tommy Anderson eine Version seiner Geschichte erzählt und seiner Tochter eine andere. Ich glaube nicht, daß er anfangs mehr im Sinn gehabt hat als Bosheit; er wußte, wie sehr ich Selena liebte, und er muß gedacht haben, es wäre eine herrliche Rache, wenn er ihr beibrachte, wie niederträchtig und übellaunig - und vielleicht sogar gefährlich ich war. Er versuchte, sie gegen mich aufzubringen, und obwohl ihm das nicht gelang, schaffte er es doch, noch näher an sie heranzukommen als in der Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen war. Und warum auch nicht? Selena ist immer sehr weichherzig gewesen, und mir ist noch nie ein Mann begegnet, der so gut den Bedauernswerten spielen konnte wie Joe.
    Er drängte sich in ihr Leben, und sobald er drinnen war, muß ihm aufgefallen sein, wie hübsch sie wurde, und er muß beschlossen haben, daß er ein bißchen mehr von ihr wollte als nur, daß sie zuhörte, wenn er redete, oder ihm das nächste Werkzeug zureichte, wenn er kopfunter im Motorraum irgendeiner alten Rostlaube steckte. Und die ganze Zeit, während dies vor sich ging und die Veränderungen eintraten, rannte ich herum, arbeitete in vier verschiedenen Häusern und versuchte, den Rechnungen immer so weit voraus zu sein, daß ich jede Woche ein paar Groschen für den späteren College-Besuch der Kinder zurücklegen konnte. Ich habe nicht das Geringste bemerkt, bevor es beinahe zu spät war.
    Sie war ein lebhaftes, gesprächiges Mädchen, meine Selena, und immer hilfsbereit. Wenn man sie bat, etwas zu holen, dann ging sie nicht; sie rannte. Als sie älter wurde, brachte sie das Essen auf den Tisch, wenn ich außer Haus arbeitete, ohne daß ich sie darum bitten mußte. Anfangs ließ sie öfters etwas anbrennen, und dann fiel Joe über sie her oder machte sich über sie lustig  - sie ist mehr als einmal weinend in ihr Zimmer gelaufen -, aber um die Zeit, von der ich euch erzähle, hörte er damit auf. Damals, im Frühjahr und Sommer 1962, tat er so, als wäre jede Pastete, die sie machte, reine Ambrosia, auch wenn die Kruste hart wie Zement war, und von ihrem Hackbraten schwärmte er, als wäre es die feinste französische Küche. Sie war glücklich über sein Lob natürlich war sie das, jede wäre es gewesen -, aber es stieg ihr nicht zu Kopf. Das wäre nicht ihre Art gewesen. Aber eines kann ich euch versichern: als Selena schließlich aus dem Haus ging, war sie an ihren schlechtesten Tagen eine bessere Köchin, als ich es an meinen besten je gewesen bin.
    Wenn es darum ging, im Haus zu helfen, hat eine Mutter nie eine bessere Tochter gehabt - zumal eine Mutter, die den größten Teil ihrer Zeit damit verbringen mußte, den Schmutz anderer Leute wegzuputzen. Selena vergaß nie, darauf zu achten, daß Joe Junior und Little Pete ihr Schulbrot bei sich hatten, wenn sie morgens aus dem Haus gingen, und zu Beginn jedes Schuljahres schlug sie ihre Bücher für sie ein. Zumindest Joe Junior hätte das selber tun

Weitere Kostenlose Bücher