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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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glaubten sie, daß der Sonnenuntergang an diesem Tag früher stattfand, und daß für sie die Zeit gekommen war, ihr Konzert anzustimmen. Ich schaute hinaus zu den Booten und sah, daß das Wasser, auf dem sie schwammen, jetzt ein dunkleres Blau hatte - da war etwas an ihnen, das gespenstisch und wundervoll zugleich war. Mein Verstand versuchte hartnäckig zu glauben, daß all diese Boote unter diesem merkwürdig dunklen Sommerhimmel nichts waren als eine Halluzination.
    Ich sah auf die Uhr - es war fast zehn Minuten vor fünf. Immer noch mehr als eine halbe Stunde bis zur totalen Finsternis, was bedeutete, daß jedermann auf der Insel in der nächsten Stunde an nichts anderes denken und nichts anderes sehen würde. Die Hast Lane war menschenleer, unsere Nachbarn waren entweder auf der Island Princess oder auf dem Hoteldach, und wenn ich Joe wirklich umbringen wollte, dann war jetzt die Zeit dazu gekommen. Meine Eingeweide fühlten sich an, als hätten sie sich zu einer großen Spiralfeder aufgerollt, und ich konnte das, was ich gesehen hatte - das kleine Mädchen auf dem Schoß seines Vaters - einfach nicht loswerden; aber ich konnte auch nicht zulassen, daß eines dieser Dinge mich aufhielt oder auch nur ablenkte, nicht für eine einzige Minute. Ich wußte, wenn ich es nicht auf der Stelle tat, dann würde ich es nie tun.
    Ich legte die Reflektorbox neben meine Näherei und sagte: »Joe.«
    »Was ist?« fragte er. Vorher hatte er sich lustig gemacht über die Sonnenfinsternis, aber jetzt, da sie tatsächlich begonnen hatte, hatte es den Anschein, als könnte er den Blick nicht von ihr abwenden. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, und der Betrachter, durch den er hindurchschaute, warf einen merkwürdigen, bleichen Schatten auf sein Gesicht.
    »Es ist Zeit für die Überraschung«, sagte ich.
    »Was für eine Überraschung?« fragte er, und als er den Finsternisbetrachter sinken ließ, um mich anzusehen, wurde mir klar, daß es doch nicht die Faszination der Finsternis war, jedenfalls nicht allein. Er war schon halb hinüber und so groggy, daß ich es ein bißchen mit der Angst zu tun bekam. Wenn er nicht verstand, was ich sagte, war mein Plan im Eimer, bevor ich auch nur angefangen hatte. Und was sollte ich dann tun? Ich wußte es nicht. Das einzige, was ich wußte, ängstigte mich fast zu Tode: ich würde keinen Rückzieher machen. Ganz gleich, was schief ging oder was später passieren mochte, ich würde keinen Rückzieher machen.
    Dann streckte er eine Hand aus, packte mich an der Schulter und schüttelte mich. »Worauf in Herrgotts Namen willst du hinaus, Frau?«
    »Du weißt von dem Geld auf den Sparkonten der Kinder?« fragte ich ihn.
    Seine Augen verengten sich ein wenig, und ich sah, daß er doch nicht so betrunken war, wie ich zuerst gedacht hatte. Und noch etwas begriff ich - daß ein Kuß nicht das mindeste ändert. Einen Kuß kann schließlich jeder geben; ein Kuß war das, womit Judas Ischariot den Römern zeigte, wer Jesus war.
    »Was ist damit?« fragte er.
    »Du hast es genommen.«
    »Du spinnst!«
    »Oh ja«, sagte ich. »Nachdem ich herausgefunden hatte, daß du dich an Selena rangemacht hast, bin ich zur Bank gegangen. Ich wollte das Geld abheben und dann die Kinder nehmen und sie von dir fortbringen.«
    Sein Unterkiefer sackte herab, und ein paar Sekunden lang stierte er mich bloß an. Dann begann er zu lachen lehnte sich einfach in seinem Schaukelstuhl zurück und lachte, während der Tag um ihn herum immer dunkler wurde. »Ja, damit hab ich dich schön reingelegt, stimmt’s?« Dann verhalf er sich zu noch etwas Scotch und schaute wieder durch den Finsternisbetrachter zum Himmel empor. »Sie ist halb weg, Dolores!« sagte er. »Halb weg, vielleicht sogar etwas mehr!«
    Ich schaute in die Reflektorbox und sah, daß es stimmte; nur ungefähr die Hälfte von diesem Fünfzig-CentStück war übrig, und es wurde immer weniger. »Ja«, sagte ich. »Sie ist tatsächlich halb weg. Und was das Geld angeht, Joe…«
    »Das kannst du vergessen«, erklärte er mir. »Deshalb brauchst du dir in deinem klugen Köpfchen keine Sorgen zu machen. Das ist bestens aufgehoben.«
    »Oh, deshalb mache ich mir keine Sorgen«, sagte ich. »Nicht die geringsten. Aber die Art, auf die du mich hereingelegt hast - die macht mir zu schaffen.«
    Er nickte, irgendwie ernst und nachdenklich, als wollte er zeigen, daß er mich verstand und sogar Mitgefühl aufbrachte, aber dann schaffte er es nicht, diesen Ausdruck

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