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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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irgendwie schwankte ich will nicht hier sitzen und etwas anderes behaupten. Es war eine Sekunde, in der ich nicht den Joe sah, der Selena begrapschte, sondern die Art, wie seine Stirn ausgesehen hatte, 1945 im Lesesaal - wie ich sie sah und mir wünschte, daß er mich genau so küßte, wie er es gerade eben getan hatte; wie ich gedacht hatte: Wenn er mich küssen würde, dann würde ich die Hand ausstrecken und die Haut auf seiner Stirn berühren und feststellen, ob sie genau so glatt ist, wie sie aussieht.
    Jetzt streckte ich die Hand aus und berührte ihn, genau wie ich es mir vor so vielen Jahren erträumt hatte, als ich nichts war als ein grünes Gör, und in dem Augenblick, in dem ich es tat, öffnete sich dieses innere Auge weiter als je zuvor. Und es sah, wie er weitermachen würde, wenn ich zuließ, daß er weitermachte - nicht nur, daß er von Selena bekommen würde, was er wollte, oder das Geld ausgeben würde, das er von den Sparkonten seiner Kinder gestohlen hatte, sondern wie er sie bearbeitete; wie er sich lustig machte über Joe Juniors gute Noten und sein Interesse an Geschichte; wie er Little Pete jedesmal auf den Rücken klopfte, wenn Pete jemanden einen Itzig nannte oder sagte, einer aus seiner Klasse wäre faul wie ein Nigger; wie er sie bearbeitete, ununterbrochen bearbeitete. Wenn ich das zuließ, würde er weitermachen, bis sie kaputt oder verdorben waren, und letzten Endes würde er sterben und uns nichts hinterlassen außer unbezahlten Rechnungen und einem Loch, um ihn zu begraben.
    Nun, ich hatte ein Loch für ihn, eines, das nicht nur zwei, sondern zehn Meter tief war, und das nicht mit Erde, sondern mit Feldsteinbrocken ausgekleidet war. Ich hatte ein Loch für ihn, und daran konnte auch ein Kuß nach drei oder vielleicht sogar fünf Jahren nichts ändern. Und ebensowenig das Berühren seiner Stirn, das weit mehr die Ursache all meiner Probleme war, als sein jämmerlicher kleiner Pimmel - aber ich berührte sie trotzdem noch einmal, fuhr mit einem Finger darüber und erinnerte mich, wie er mich auf der Terrasse des Samoset Inn geküßt hatte, während die Band drinnen Moonlight Cocktail spielte, und wie ich das Rasierwasser seines Vaters auf seinem Gesicht gerochen hatte, während er es tat.
    Dann verhärtete ich mein Herz.
    »Das freut mich«, sagte ich und griff nach dem Tablett. »Wie war’s, wenn du zusehen würdest, wie du mit diesen Betrachtern und Reflektorboxen zurechtkommst, während ich das bißchen Geschirr abwasche?«
    »Mir ist scheißegal, was diese reiche Fotze dir gegeben hat«, sagte er, »und diese verdammte Sonnenfinsternis ist mir auch scheißegal. Ich weiß, wie es ist, wenn es dunkel wird. Das passiert jeden Abend.«
    »Na schön«, sagte ich. »Tu, was du willst.«
    Ich war bis zur Tür gekommen, als er sagte: »Vielleicht sollten wir beide, du und ich, später noch ein bißchen Spaß haben. Was hältst du davon?«
    »Vielleicht«, sagte ich und dachte dabei die ganze Zeit, daß er eine Menge Spaß bekommen würde. Bevor es an diesem Tag zum zweiten Mal dunkel wurde, würde Joe St. George mehr Spaß haben, als er sich je hatte träumen lassen.
    Ich behielt ihn im Auge, während ich am Ausguß stand und unser bißchen Geschirr abwusch. Er hatte seit Jahren im Bett nichts anderes getan als schlafen, schnarchen und furzen, und ich glaube, er wußte so gut wie ich, daß das Saufen ebensoviel damit zu tun hatte wie mein häßliches Gesicht - wahrscheinlich mehr. Ich hatte ein bißchen Angst, daß der Gedanke, später den großen Macker herauszukehren, ihn vielleicht veranlassen könnte, die Flasche Johnnie Walker wieder zuzumachen, aber er dachte gar nicht daran. Für Joe war das Ficken (Entschuldigung, Nancy) nicht mehr als eine Laune des Augenblicks, genau wie sein Kuß es gewesen war. Für ihn war die Flasche wesentlich realer. Die Flasche war genau da, wo er sie anfassen konnte. Er hatte einen der Finsternisbetrachter aus der Tüte geholt und hielt ihn am Griff hoch, drehte ihn hin und her, blinzelte durch ihn hindurch zur Sonne hinauf. Er erinnerte mich an etwas, das ich einmal im Fernsehen sah - einen Schimpansen, der versucht, ein Radio einzustellen. Dann legte er ihn hin und schenkte sich einen weiteren Drink ein.
    Als ich mit meinem Nähkorb auf die Veranda zurückkehrte, sah ich, daß er bereits diesen eulenhaften Ausdruck mit rot umränderten Augen bekam, den er immer hatte, wenn er unterwegs war von leicht Angesäuselt zu Stockbesoffen. Trotzdem warf er mir

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