Domfeuer
tausenden Menschen zu erkennen, auch ohne ihn jemals gesehen zu haben. Aber um ehrlich zu sein, mache ich mir nicht allzu viel Hoffnung, dass wir ihn stellen können. Wenn er ein kluger Kerl ist, wovon ich ausgehe, ist er längst über alle Berge verschwunden oder vom Rhein wieder in die niederen Lande gespült.«
Nox schlenderte gelassen über die Hafenmauer. Vom Töten und vom Geld abgesehen, gab es nicht viel, was er mochte. Den Geruch und die Geräusche des Hafens an einem Morgen aber liebte er. Zu dieser Stunde wirkte der Hafen auf ihn wie das Sinnbild des Lebens. In der Ruhe und Reinheit der Morgendämmerung erkannte er die Erinnerung an den Garten Eden. Im ersten Rumpeln der Kisten und den frühen Rufen der Schiffer, die die Stille zerschnitten, sah er den Sündenfall, den Verlust des Paradieses. Und über allem lag der Geruch von brackigem Wasser und totem Fisch. Der süße Duft der Fäulnis. Die Mahnung des Jüngsten Gerichts. Nox atmete diesen Duft tief ein.
Er hielt auf das Salzgassentor zu. Es war an der Zeit, der Stadt noch einen Besuch abzustatten und sich zu vergewissern, ob alles seinen gewünschten Gang gegangen war. Das Verhalten der Torwächter bewies ihm, dass es in der Nacht bestens gelaufen war. Sie reckten ihre Hälse, also hielten sie nach jemandem Ausschau. Ihn aber, den grobschlächtigen Riesen, vor dem sich die Vorbeigehenden duckten, würdigten sie mit keinem Blick.
»Wen sucht Ihr, Freund?«, fragte er einen der Torwächter.
Der Mann sah ihn zunächst streng an. Die Wächter waren es gewohnt, Fragen zu stellen, und nicht, selbst ausgefragt zu werden. »Geht weiter. Das ist Eure Sache nicht.«
»Mir scheint, als suchtet Ihr jemanden. Ich will wissen, ob ich in dieser Stadt sicher bin.«
»Wenn sich ein Eichenstamm wie Ihr vor einem kleinen Frauenzimmer mit Augenklappe fürchtet, solltet Ihr das Weite suchen. Wenn nicht, seid herzlich willkommen.«
Nox bedankte sich. Er hätte zufrieden sein und auf das Schiff zurückkehren können. Er glitt dennoch durch das Tor in die Stadt. Nun galt es, die Mitwisser aus seinem Dienst zu entlassen. Zeit, die letzten Spuren zu verwischen.
Seltsam zwar, dass niemand nach diesem Paulus Ausschau hielt, den Nox ja eigentlich als Sündenbock aufgebaut hatte. Doch solange er selbst unbehelligt durch Köln gehen konnte, sollten die Turmwächter und Büttel seinetwegen gern nach einem Mädchen mit Augenklappe suchen.
Nachdem Jenne nahe dem Salzgassentor auf die Hafenmauer gesprungen war, rückte sie sich die Augenklappe zurecht. Paulus folgte ihr und seinem Bruder erst, nachdem er sich vergewissert hatte, dass auf dem Kai niemand unterwegs war, der nach einem flüchtigen Mörder Ausschau hielt. Doch im Hafen schien alles seinen gewohnten Gang zu nehmen. Trotzdem wollte Paulus niemandem über den Weg laufen, den er kannte. Im Hafen zumindest würde das kein leichtes Unterfangen werden.
Barthel trennte sich kurz von ihnen, sprach mit einem Mann, den Paulus als Wiegeknecht kannte, und kehrte dann zu ihnen zurück. Paulus stellte sich nah an ihn, um sich hinter seinem Bruder zu verbergen.
»Es stimmt«, sagte Barthel. »Die Nachricht ist bereits in aller Munde. Mummersloch, Quatermart und mein Vater sind tot.«
»Das tut mir leid, Barthel, wirklich.«
Barthel winkte ab. »Hier trennen wir uns. Ich bleibe am Schiff, bis ich entweder diesen Nox finde oder ihr zurückkehrt. Und ihr beiden vergesst bei euren Unternehmungen nicht, nach Matthias Ausschau zu halten. Alles klar?«
Paulus nickte. Es gab vieles, was er an seinem Bruder zu schätzen wusste. Die Tatkraft und Entschlossenheit bewunderte er sogar.
»Dann seht zu, dass ich nicht den halben Tag hier verbringen muss.«
Paulus und Jenne zogen los und gingen stramm auf das Salzgassentor zu. Sie hatten sich bewusst für dieses Tor entschieden. Es war das Waren- und Zolltor des Hafens, das Nadelöhr für Fässer und Kisten, was zur Folge hatte, dass hier immer viel Volk unterwegs war. Genug jedenfalls, dass sie sich daruntermischen konnten, auch wenn so früh morgens den Zollmeistern kaum Güter angemeldet wurden. Um diese Zeit waren aber viele Tagelöhner in der Gasse, die aus der Stadt hinaus in den Hafen strömten in der Hoffnung, auf einem der Schiffe Arbeit zu finden.
Das Tor und die Salzgasse waren wie ein Keil, den ein Riese vom Rhein her in die Stadt geschlagen hatte. Die Gasse teilte den Heu- und den Alter Markt, und sie lag genau in der Verlängerung der alten Römerbrücke über den Fluss. Die
Weitere Kostenlose Bücher