Don Fernando erbt Amerika
selbst waren Dinge unternommen worden, die ein gesunder deutscher Stoff nicht über sich ergehen lässt, ohne vor Scham zu sterben. Es handelte sich um Shantungseide. Sehr zarte Seide. Eingewebt waren anstößige Szenen, die bei jeder Bewegung zum Leben erwachten. Fernando hatte Carlos in die übelsten Viertel Nürnbergs geschickt, und selbst in den Läden hinter der Mauer war sein spezieller Wunsch zwar nicht auf Erröten, aber doch auf eine wache professionelle Neugier gestoßen. Dadurch und durch Carlos’ Zähigkeit hatte man den gewünschten Artikel auftreiben können.
Deshalb hatte der Bürgermeister auch gewisse Schwierigkeiten gehabt, jemanden zu finden, der ihn telefonieren ließ. In der Tankstelle war es ihm schließlich gelungen. Allerdings ist es nur für Menschen mit besonderer Geisteshaltung und Veranlagung ein echtes Vergnügen, in Damenunterwäsche (mit Eingriff) nachts in der einzig offenen Tankstelle der Stadt herumzustehen und auf die Polizei zu warten. Vor allem war sich der Bürgermeister sicher, dass der Tankwart ihn erkannt hatte, aber wahrscheinlich bei der SPD war – und deshalb steif und fest behauptet hatte, es gäbe in der gesamten Tankstelle keinen einzigen Fetzen Stoff, den er erübrigen könne.
Er war also, als Köberlein mit einer Hundertschaft Polizei eintraf, nicht gut gelaunt. Auch besserte sich seine Laune nicht, als einer derPolizisten, der außerdem ölverschmierte Hände hatte, ihn durch einen netten Scherz über sein Kostüm aufzuheitern versuchte.
Sie waren dann sofort in die Mathildenstraße gefahren und hatten die Wohnung gestürmt, die selbstverständlich leer war. Und in Gileads Wohnung war es denn auch, wo der Bürgermeister sich so echauffierte.
Etwas übertrieben, wie Köberlein fand.
»Wieso hat er Sie eigentlich freigelassen?«, fragte Köberlein in eine der Pausen hinein, die der Bürgermeister brauchte, um sich den Schaum vom Mund zu wischen.
»Er hatte ja noch gar keine Lösegeldforderung gestellt.«
»Er wollte kein Lösegeld!«, heulte der Bürgermeister und zertrümmerte eines von Gileads Regalen. »Er wollte ein Dokument aus dem Archiv!«
Köberlein glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Er wollte was?«
»Ein Scheißdokument aus dem Archiv!«, schrie der Bürgermeister und versuchte, mit Hilfe seiner Zähne den Teppich zu zerreißen. Dann beruhigte er sich plötzlich.
»Augenblick mal! Mein Sekretär! Kretschmer! Der muss den Zettel doch noch haben! Wenn wir wissen, was das für ein Dokument ist, dann kriegen wir ihn wahrscheinlich. Los, Köberlein«, rief er und rannte schon die Treppen hinunter, »ins Archiv!«
Köberlein folgte ihm langsam. Er fühlte sich sehr müde. Und vielleicht hatte seine Mutter doch recht gehabt. Er hätte nie Polizeichef werden sollen. Gott hatte jemand ganz anderen vorgesehen, der dann plötzlich gestorben war. Und dann hatte er blind auf das Alphabet getippt – und ihn gefunden. Was für eine Nacht! Er sah auf die Uhr. Es ging gegen halb vier Uhr morgens. Croissants würde es frühestens um sechs geben, und bestimmt nicht im Archiv.
Um vier Uhr morgens schien der Gang des Kellers im Rathaus schier zu platzen, so voll war er. Fernando hatte zu Recht auf eine Hundertschaft Polizei gehofft. Sie war da. Und nicht nur hundert Polizisten– von denen zwei hochgekrempelte Ärmel hatten, damit sie ihre Hemden nicht mit Maschinenöl verdreckten –, da waren auch Köberlein und der Bürgermeister – der nun zumindest von der Hüfte aufwärts wieder respektabel aussah, denn er hatte eine Polizeijacke requiriert – und schließlich auch noch Kretschmer – der zwar einen Verband um den Kopf trug und ein schillerndes Auge hatte, aber dennoch voller Rachedurst und Energie die ganze Mannschaft anführte.
»So. Hier ist es!«, flüsterte er befriedigt. Es war sehr still. Hinter der Tür des Archivs konnte man das Schlurfen müder Füße und ab und zu ein trockenes Husten hören.
»Weshalb Sie so einen Wind um das Archiv machen …«, begann der Bürgermeister laut, aber Köberlein und Kretschmer verlangten absolute Ruhe. Kretschmer hatte schon von seiner ersten Attacke auf das Archiv berichtet. Köberlein war deshalb kein guter Polizeichef, weil er zu viel Fantasie hatte, was ihm erlaubte, kritische Szenen farbig auszugestalten. Und über zwanzig Jahre Erfahrung mit dem Polizeiarchiv. Wenn er dazu jemals Zugang bekommen hätte, wäre er heute Innenminister und müsste nicht mitten in einer schrecklichen Januarnacht auf einem
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