Don Fernando erbt Amerika
konnte nur hoffen,dass niemand darunter begraben wurde. Noch bevor Kretschmer sein MG aufgebaut hatte und der Mörser schussfertig war, tönte plötzlich von hinten ein wilder Schrei: »Die Nachhut wird angegriffen!«
»Streit um Asterix«, murmelte Köberlein düster in seine Gasmaske und duckte sich. Tatsächlich. Hinter ihnen konnte man sehen, wie bizarre Gestalten scheinbar aus den Regalen schmolzen und sich im Gang manifestierten. Es war ein Trupp junger Archivare, die sich jeweils vor Brust und Bauch einen Folianten als Rüstung gebunden hatten, sodass nur noch Arme, Beine und Kopf heraussahen. In den Händen trugen sie gewaltige Federhalter, deren Kolben sie rhythmisch niederdrückten und so Eisengallustinte auf die Angreifer spritzten. Sie torkelten ein wenig, als stünden sie unter Drogen, und skandierten bei ihrem unerbittlichen Vorrücken:
»In – ven – tur! In – ven – tur!«
Allein das bizarre Aussehen und die geschlossene Front der Archivare war schon angsteinflößend, aber wirklich panisch wurde Köberlein erst, als er bemerkte, dass die Archivare Gummiarabikum unter die Tinte gemischt hatten und er die Arme nicht mehr vom Körper lösen konnte. Kretschmers Maschinengewehr war verklebt und untauglich. Der Mörser ließ sich nicht mehr schwenken. Bedrohlich nah waren die schwarzgrauen Truppen des Feindes schon, als Kretschmer endlich einen Geistesblitz hatte. Er warf sich herum, riss mit roher Gewalt die festgeklebten Arme vom Jackett und raffte das erstbeste Buch aus dem Regal. Das warf er Köberlein mit dem Schrei zu: »Lesen Sie!«
»Was?«, schrie Köberlein verblüfft durch die Gasmaske zurück. »Jetzt?«
»Schnell!«, schrie Kretschmer in höchster Not, als ihn ein zweiter Schwall Eisengallustinte, vermischt mit Gummiarabikum, traf. »Schnell!«
Köberlein war plötzlich alles egal. Er öffnete das Buch mit klebrigen Fingern und warf einen Blick hinein, entzifferte mit Mühe den ersten Buchstaben der Überschrift.
Plötzlich war eine so absolute Stille, als hätte ein gewaltiger Gong weit jenseits der Hörbarkeitsgrenze alle Trommelfelle gesprengt. Köberlein erstarrte. War er dafür verantwortlich? Er wagte nicht, die Augen zu heben, sondern las einfach weiter Majuskeln und Minuskeln, um den Sieg nicht zu gefährden.
Er hätte die Augen vielleicht doch heben sollen.
Von seinem Standpunkt aus gesehen.
Kretschmer hingegen flehte zum Himmel, dass er es nicht tun würde. 8 Er war ja nicht umsonst Sekretär des Bürgermeisters geworden. Natürlich war er genialer als sein Chef, deswegen hatte er in einem raschen Blitz der Offenbarung erkannt, dass es nur eines gab, was die Archivare noch aufhalten konnte: Wenn man ihr drittes Gebot verletzte:
»3. Lass das Dokument nie – nie – jemanden außerhalb der Archivargilde sehen!«
Weil also Köberlein aus Angst, der Waffenstillstand könnte plötzlich enden, die Augen nicht vom Buch hob, konnte er auch nicht sehen, dass alle Archivare, wie von einem gewaltigen Magneten angezogen, auf ihn zurasten, um ihn … na ja. Hätte Köberlein eine Sekunde später noch denken können, wäre sein Wunsch nach einem Croissant wohl übermächtig geworden. So gesehen bewahrten ihn die Archivare vor einem Trauma.
Die meisten Traumata kommen nur deshalb nicht zustande, weil sie vorher durch schlimmere ersetzt werden.
Kretschmer und der Bürgermeister hingegen suchten in aller Seelenruhe die Regale ab und zogen schließlich einen schmalen, hochformatigen, schwarzen Band aus dem Regal, auf dem stand: »KOPIEN ABGÄNGIGER DOKUMENTE 1521-1522«.
»Besser als nichts!«, sagte Kretschmer achselzuckend. »Gehen wir?«
Der Bürgermeister warf einen Blick auf das zuckende Knäuel von siebzehn Archivaren, unter denen irgendwo tief, tief unten Köberlein liegen musste.
»Ja!«, sagte er dann hasserfüllt und zupfte sein Höschen zurecht.
Kretschmer hob den Arm und rief den Polizisten zu: »Rückzug, Jungs! Keine Plünderungen mehr!«
Ein vielstimmiges Siegesgebrüll antwortete dem neuen Anführer, und die Polizei rückte geschlossen ab.
Was wieder eine Sache des Standpunkts ist.
Sie rückte geschlossen ab, wenn man ihren Chef nicht als Polizist zählte. Da Köberlein sich just in diesem Augenblick nichts so sehr wünschte, als kein Polizist zu sein, war der Ausdruck »geschlossen« wohl legitim. Außerdem kann ein Mann, der sich einbildet, ein großes, frisches, duftendes Croissant zu sein, nicht lange Polizist bleiben.
»Gegeben in unserer Stadt
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