Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
dann wirklich, wenn man sich auf ihre Wirklichkeit geeinigt hat. Was zum Beispiel heute abend passiert ist, kann für dich unmöglich wirklich sein, weil sich niemand mit dir darüber einigen könnte.«
»Willst du damit sagen, du hättest nicht gesehen, was geschah?«
»Natürlich sah ich es. Aber ich kümmere mich nicht darum. Ich bin es doch, der dich anschwindelt, weißt du noch?« Don Juan lachte, bis er hustete und keuchte. Obwohl er sich über mich lustig machte, war sein Lachen freundlich. »Gib nicht allzu viel auf meinen Unsinn«, beruhigte er mich. »Ich versuche dir nur zu helfen, dich zu entspannen, und ich weiß, daß dir nur wohl ist, wenn du völlig durcheinander bist.« Sein Gesichtsausdruck war gewollt komisch, und wir lachten beide. Was er eben gesagt hatte, meinte ich zu ihm, mache mir mehr Angst als alles andere. »Hast du Angst vor mir?« fragte er. »Nicht vor dir, aber vor dem, wofür du eintrittst.«
»Ich trete für die Freiheit eines Kriegers ein. Hast du davor Angst?«
»Nein. Aber ich habe Angst vor der furchtbaren Entrücktheit deines Wissens. Darin ist kein Trost für mich, kein sicherer Hafen, in den ich mich flüchten könnte.«
»Schon wieder bringst du die Dinge durcheinander. Trost, sicherer Hafen, Furcht, all dies sind Stimmungen, die du gelernt hast, ohne jemals ihren Wert in Frage zu stellen. Wie man sieht, hast du dich schon ganz den Schwarzen Magiern verschrieben.«
»Wer sind die Schwarzen Magier. Don Juan?«
»Die Schwarzen Magier sind unsere Mitmenschen. Und da du zu ihnen gehörst, bist auch du ein Schwarzer Magier. Denk mal einen Augenblick nach! Kannst du von dem Weg abweichen, den sie dir vorschreiben? Nein. Dein Denken und dein Handeln sind auf ewig nach ihren Bedingungen festgelegt. Das ist Sklaverei. Ich dagegen habe dir Freiheit gebracht. Freiheit ist teuer, aber der Preis ist nicht unerschwinglich. Darum fürchte deine Gefängniswärter, deine Meister! Vergeude nicht deine Zeit und deine Kraft, indem du Angst vor mir hast!« Ich wußte, daß er recht hatte, und doch, trotz meiner ehrlichen Zustimmung, wußte ich auch, daß meine lebenslangen Gewohnheiten mich unausweichlich auf meinem alten Weg festhalten würden. Tatsächlich, ich kam mir wie ein Sklave vor.
Nach langem Schweigen fragte mich Don Juan, ob ich mich stark genug für eine weitere Begegnung mit dem Wissen fühlte.
»Du meinst, mit dem Nachtfalter?« fragte ich halb im Scherz. Sein Körper krümmte sich vor Lachen. Es war. als hätte ich ihm eben den besten Witz der Welt erzählt. »Was meist du wirklich, wenn du sagst, das Wissen sei ein Nachtfalter?« fragte ich.
»Ich habe nichts anderes im Sinn«, erwiderte er. »Ein Nachtfalter ist ein Nachtfalter. Ich hatte geglaubt, daß du jetzt, nach allem, was du vollbracht hast, genügend Kraft hättest, um zu sehen. Statt dessen hast du einen Mann wahrgenommen, und das war nicht das wirkliche Sehen.«
Vom Anfang meiner Lehrzeit an hatte Don Juan mir das »Sehen« als eine besondere Fähigkeit geschildert, die man entwickeln könne und die einem erlaubte, das »innerste« Wesen der Dinge zu erfassen.
In den Jahren unserer Verbindung hatte ich die Vorstellung gewonnen, daß das. was er unter »Sehen« verstand, ein intui tives Begreifen der Dinge ist, oder die Fähigkeit, etwas unmittelbar zu verstehen, oder die Eigenschaft, menschliche Interaktionen zu durchschauen und verborgene Bedeutungen und Motive zu entdecken.
»Ich könnte es so beschreiben, daß du heute abend, als du den Nachtfalter erblicktest, halb schautest und halb sahst«, fuhr Don Juan fort. »Obgleich du in diesem Zustand nicht gänzlich dein gewohntes Selbst warst, warst du doch in der Lage, voll bewußt zu sein, um dich deiner Kenntnis der Welt zu bedienen.«
Don Juan machte eine Pause und schaute mich an. Zuerst wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Dann fragte ich: »Wie bediente ich mich meiner Kenntnis der Welt?«
»Deine Kenntnis der Welt sagte dir, daß sich im Gebüsch nur umherschleichende Tiere oder Menschen verstecken können. An diesem Gedanken hieltst du fest, und natürlich mußtest du eine Möglichkeit finden, die Welt in Übereinstimmung mit diesem Gedanken zu bringen.«
»Aber ich dachte überhaupt nichts. Don Juan.«
»Nun, nennen wir es nicht Denken. Es ist eher die Gewohnheit, die Welt stets in Übereinstimmung mit unseren Gedanken zu sehen. Wenn sie dies nicht ist. sorgen wir einfach dafür, daß sie übereinstimmt. Nachtfalter, groß wie ein Mann, kann
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