Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
wir einmal an, die Seele sei der Aschenbecher.«
»Sind es die Gedanken der Menschen?«
»Nein. Auch die Gedanken sind auf dem Tisch. Die Gedanken sind das Besteck hier.« Er nahm eine Gabel und legte sie neben die Chiliflasche und den Aschenbecher.
»Ist es ein Zustand der Gnade? Der Himmel?«
»Nein, das auch nicht. Das. was es auch sein mag. ist ebenfalls Teil des Tonal. Sagen wir, es sei die Serviette.« Ich fuhr fort und zählte alle Möglichkeiten der Beschreibung auf für das, was er meinen mochte: Intellekt, Psyche, Energie, Lebenskraft, Unsterblichkeit. Lebensprinzip. Für jeden Begriff, den ich nannte, fand er auf dem Tisch einen Gegenstand, den er als Gegenstück benutzte und vor mir aufbaute, bis er alle auf dem Tisch befindlichen Objekte auf einem Haufen versammelt hatte. Don Juan schien die ganze Sache ungeheuren Spaß zu machen. Er kicherte und rieb sich die Hände, sooft ich eine weitere Möglichkeit erwähnte.
»Ist das Nagual das höchste Wesen? Der Allmächtige, Gott?«
»Nein. Auch Gott gibt es auf dem Tisch. Nehmen wir an, Gott sei das Tischtuch.«
Er machte eine spaßige Gebärde, als wolle er das Tischtuch an den Zipfeln hochheben, um es über die anderen Gegenstände zu breiten, die er vor mir aufgestellt hatte. »Aber sagtest du nicht, daß Gott nicht existiert?«
»Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte nur, daß das Nagual nicht Gott ist, denn Gott ist ein Gegenstand unseres persönlichen Tonal und des Tonal der Zeiten. Wie schon gesagt, das Tonal ist alles, woraus die Welt sich, wie wir glauben, zusammensetzt - einschließlich Gott, natürlich. Gott hat nicht mehr Bedeutung, als daß er ein Teil des Tonal unserer Zeit ist.«
»In meinem Verständnis, Don Juan, ist Gott alles. Sprechen wir überhaupt über dasselbe?«
»Nein. Gott ist nur all das, was du zu denken vermagst, daher ist er, genaugenommen, nur einer unter den Gegenständen auf der Insel. Man kann Gott nicht willentlich erleben, man kann nur über ihn sprechen. Das Nagual hingegen steht dem Krieger zu Gebot. Man kann es erleben, aber man kann nicht darüber sprechen.«
»Wenn das Nagual keines der Dinge ist. die ich genannt habe, kannst du mir dann vielleicht etwas über seinen Aufenthaltsort sagen? Wo ist es?«
Don Juan fegte mit der Hand durch die Luft und wies auf den Raum außerhalb der Tischkanten. Er bewegte die Hand, als wollte er eine imaginäre Oberfläche säubern, die über die Kanten des Tisches hinausreichte.
»Das Nagual ist dort«, sagte er. »Dort, es umgibt die Insel. Das Nagual ist dort, wo die Kraft schwebt. Vom Augenblick unserer Geburt an fühlen wir, daß wir aus zwei Teilen bestehen. Zum Zeitpunkt der Geburt und noch kurz danach sind wir nur Nagual. Dann fühlen wir, daß wir. um zu funktionieren, ein Gegenstück zu dem brauchen, was wir haben. Was fehlt, ist das Tonal, und dies gibt uns von Anfang an ein Gefühl der Unvollkommenheit. Dann fängt das Tonal an zu wachsen, und es wird ungemein wichtig, so wichtig, daß es den Glanz des Nagual verdunkelt, es zurückdrängt. Von dem Augenblick an, da wir ganz Tonal sind, tun wir nichts anderes, als jenes alte Gefühl der Unvollkommenheit zu verstärken, das uns seit dem Augenblick unserer Geburt begleitet und das uns beständig sagt, daß es noch einen anderen Teil braucht, um uns zu vervollständigen. Von dem Augenblick an. da wir ganz Tonal werden, fangen wir an, Paare zu bilden. Wir fühlen unsere zwei Seiten, aber wir stellen sie uns immer nur anhand von Gegenständen des Tonal vor. So sagen wir. daß unsere zwei Teile Körper und Seele sind. Oder Geist und Materie. Oder Gut und Böse. Gott und Satan. Aber nie erkennen wir. daß wir nur Gegenstände unserer Insel zu Paaren zusammenfassen, ganz ähnlich wie wenn wir Kaffee und Tee. Brot und Tortillas, Chili und Senf paarweise bezeichnen. Wir sind komische Wesen, sage ich dir. Wir tappen im Dunkel, und in unserer Torheit machen wir uns vor, alles zu verstehen.« Don Juan stand auf und sprach mich an, als sei er ein Volksredner. Er deutete mit dem Zeigefinger auf mich und ließ seinen Kopf zittern.
»Der Mensch bewegt sich nicht zwischen Gut und Böse«, sagte er in einem fröhlich rhetorischen Tonfall und griff mit beiden Händen nach Pfeffer und Salz. »In Wirklichkeit bewegt er sich zwischen Negativität und Positivität.« Er ließ die Salz-und Pfefferstreuer fallen und griff nach Messer und Gabel. »Du irrst! Es gibt keine Bewegung«, fuhr er fort, als ob er sich selbst widerspräche.
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