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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Notizen und schickte mich zum Gehen an, als die Vordertür mit lautem Krach aufflog. Pablito und ich sprangen unwillkürlich auf und fuhren herum. In der Tür stand Nestor. Ich lief auf ihn zu. In der Mitte des Zimmers stießen wir zusammen. Er stürzte sich auf mich und packte mich an den Schultern. Er wirkte größer und stärker als damals, als ich ihn zuletzt gesehen hatte. Sein schlanker, sehniger Körper hatte eine beinah katzenhafte Geschmeidigkeit gewonnen. Irgendwie war der Mann, der da vor mir stand und mich anschaute, nicht der Nestor, den ich gekannt hatte. Diesen hatte ich nämlich als sehr schüchternen Menschen in Erinnerung, der wegen seiner schief gewachsenen Zähne nicht zu lächeln wagte - ein Mann, der wegen seiner Unbeholfenheit Pablitos Fürsorge unterstellt war. Der Nestor aber, den ich jetzt vor mir sah, war eine Mischung aus Don Juan und Don Genaro. Er war drahtig und agil wie Don Genaro und hatte die hypnotisierend gebieterische Art des Don Juan. Ich wollte mir meine Überraschung nicht anmerken lassen, aber ich konnte nichts anderes tun als in sein Lachen einstimmen. Er klopfte mir auf den Rücken. Er nahm seinen Hut ab. Erst jetzt bemerkte ich, daß Pablito keinen Hut trug. Mir fiel auch auf, daß Nestors Gesicht viel dunkler und härter war. Neben ihm wirkte Pablito beinah zart und zerbrechlich. Beide trugen sie amerikanische Jeans, feste Jacken und Schuhe mit Kreppsohlen. Nestors Anwesenheit verscheuchte sofort die bedrückte Stimmung im Haus. Ich forderte ihn auf, mit uns in die Küche zu kommen. »Du kommst gerade richtig«, sagte Pablito mit strahlendem Lächeln zu Nestor, während wir Platz nahmen. »Der Maestro und ich haben geweint und uns an die Toltekenteufel erinnert.«
    »Hast du wirklich geweint, Maestro?« fragte Nestor mit boshaftem Grinsen.
    »Darauf kannst du dich verlassen«, antwortete Pablito. Ein ganz leises Knacken an der Vordertür ließ Pablito und Nestor verstummen. Wäre ich allein gewesen, ich hätte gar nichts gehört oder gemerkt. Pablito und Nestor standen auf. Ich ebenfalls. Wir schauten zur Tür; sie wurde von außen ganz sachte geöffnet. Ich überlegte, vielleicht war la Gorda zurückgekehrt, und wollte leise die Tür öffnen, um uns nicht zu stören. Als die Tür endlich weit genug offenstand, um einem Menschen Durchlaß zu bieten, kam Benigno herein, und zwar so, als schliche er sich in ein dunkles Zimmer. Seine Augen waren geschlossen, er ging auf Zehenspitzen. Er erinnerte mich irgendwie an ein Kind, das sich heimlich durch die Hintertür ins Kino schleicht, um sich einen jugendverbotenen Film anzusehen, und nicht wagt, sich durch ein Geräusch zu verraten, während es blind durch die Dunkelheit tappt. Wir alle schwiegen und beobachteten Benigno. Er öffnete ein Auge, gerade genug, um durch die Wimpern zu spähen und sich zu orientieren, dann schlich er auf Zehenspitzen durchs vordere Zimmer zur Küche. Eine Weile blieb er mit geschlossenen Augen vor dem Tisch stehen. Pablito und Nestor setzten sich und forderten mich durch ein Zeichen auf, mich ebenfalls zu setzen. Dann glitt Benigno neben mich auf die Bank. Er rieb seinen Kopf sachte an meiner Schulter; es war ein leichter Stubs, als wollte er mich auffordern, zur Seite zu rücken und ihm auf der Bank Platz zu machen; dann setzte er sich, die Augen noch immer geschlossen, und machte es sich bequem.
    Er trug Jeans, genau wie Pablito und Nestor. Sein Gesicht war voller geworden seit damals, als wir uns vor Jahren zum letztenmal begegnet waren, und sein Haaransatz kam mir anders vor, aber ich hätte nicht sagen können wieso. Er hatte einen helleren Teint, als ich mich zu erinnern meinte, sehr kleine Zähne, volle Lippen, hohe Backenknochen, eine schmale Nase und große Ohren. Er war mir immer wie ein Kind vorgekommen, mit noch nicht ganz ausgereiften Gesichtszügen.
    Pablito und Nestor hatten ihr Gespräch mitten im Satz unterbrochen, um Benignos Auftritt zu beobachten. Jetzt, da er saß, nahmen sie den Faden wieder auf, als sei nichts geschehen. »Aber sicher, er hat mit mir geweint«, sagte Pablito.
    »Er ist doch keine Heulsuse wie du«, sagte Nestor zu Pablito. Er drehte sich zu mir und umarmte mich. »Ich bin so froh, daß du noch am Leben bist. Wir haben eben mit la Gorda geredet, und sie sagte, du bist jetzt der Nagual, aber sie hat uns nicht erzählt, wie du es geschafft hast, am Leben zu bleiben. Wie hast du das geschafft, Maestro?« An diesem Punkt stand mir eine komische Entscheidung offen:

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