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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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zufrieden gewesen. Heute nacht hast du alles, was da ist, gesehen.«
    »Tatsächlich?« fragte ich. »Da - so bist du!« sagte Lidia und alle lachten. »Erzähl mir etwas über mein Sehen, Gorda«, bat ich. »Du weißt, daß ich dumm bin, aber es sollte keine Mißverständnisse zwischen uns geben.«
    »Also gut«, sagte sie. »Ich verstehe, was du meinst. Heute nacht sahst du die Schwesterchen.«
    Ich erklärte ihnen, daß ich auch Don Juan und Don Genaro unglaubliche Taten hatte vollbringen sehen. Ich hatte sie so klar und deutlich gesehen, wie vorhin die Schwesterchen, und doch hatten Don Juan und Don Genaro immer wieder festgestellt, daß ich nicht >gesehen< hatte. Daher konnte ich nicht einsehen, inwiefern die Taten der Schwesterchen anders sein sollten. »Du meinst, du hast nicht gesehen, wie sie sich an den Linien der Welt festhielten?« fragte sie. »Nein, habe ich nicht.«
    »Du sahst nicht, wie sie durch den Spalt zwischen den Welten schlüpften?«
    Ich berichtete ihnen, was ich gesehen hatte. Schweigend hörten sie zu. Gegen Ende meines Berichts war la Gorda den Tränen nahe.
    »Welch ein Jammer«, rief sie. Sie stand auf, kam um den Tisch und umarmte mich. Ihre Augen blickten klar und ruhig. Ich wußte, daß sie nichts Böses gegen mich im Schilde führte. »Es ist eben dein Schicksal, daß du so vernagelt bist. Aber für uns bist du trotzdem der Nagual. Ich werde dich nicht mit häßlichen Gedanken behindern. Das wenigstens will ich dir versichern.« Ich wußte, daß sie es aufrichtig meinte. Sie sprach zu mir von einer Ebene her, wie ich es nur bei Don Juan erlebt hatte. Sie hatte mir ja wiederholt erklärt, daß ihre Gemütsverfassung eine Folge des Umstands war, daß sie ihre menschliche Form verloren hatte; wirklich, sie war eine formlose Kriegerin. Mich erfaßte eine Woge tiefer Zuneigung zu ihr. Ich war nah dran zu weinen. Aber gerade in dem Moment, als ich so deutlich empfand, welch eine wunderbare Kriegerin sie war, da widerfuhr mir etwas ganz Erstaunliches. Am ehesten könnte ich es so beschreiben, daß es plötzlich in meinen Ohren knallte. Nur daß ich das Knallen weniger in den Ohren als vielmehr in der Körpermitte, direkt unterm Nabel spürte. Und gleich nach dem Knall wurde alles merklich klarer - Geräusche, Bilder, Gerüche. Dann spürte ich ein starkes Summen, das aber seltsamerweise mein Gehör nicht beeinträchtigte. Das Summen war laut, aber es überdeckte nicht die anderen Geräusche. Es war, als ob ich das Summen mit einem anderen Körperteil als den Ohren vernahm. Dann fuhr ein heißer Blitz durch meinen Körper. Und jetzt erinnerte ich mich plötzlich an etwas, das ich nie zuvor gesehen hatte. Es war, als ob eine fremde Erinnerung von mir Besitz ergriffen hätte. Ich erinnerte mich daran, wie Lidia, als sie über die Wand lief, sich an zwei horizontalen rötlichen Seilen vorwärts zog. Sie lief nicht eigentlich; genauer gesagt, sie glitt auf einem dicken Faserbündel dahin, das sie mit ihren Füßen festhielt. Ich erinnerte mich gesehen zu haben, wie sie vor Anstrengung keuchte, während sie sich an den rötlichen Seilen weiterzog. Jetzt war mir auch klar, warum ich gegen Ende ihrer Vorstellung das Gleichgewicht verlor; ich hatte sie nämlich als ein Licht gesehen, das so schnell im Raum herumfuhr, daß mir schwindlig wurde; ich hatte seinen Sog in der Nabelgegend gespürt.
    Auch an Rosas und Josefinas Taten erinnerte ich mich. Rosa hatte sich buchstäblich vorwärts gehangelt, wobei sie sich mit der linken Hand an langen, vertikalen rötlichen Fasern festhielt, die von den geschwärzten Dachbalken herabhingen und wie Weinranken aussahen. Und mit der rechten Hand hielt sie sich an so etwas wie vertikalen Fasern fest, die ihr Stabilität gaben. Auch mit den Zehen klammerte sie sich an diese Fasern. Zum Ende ihrer Vorstellung sah sie aus wie eine phosphoreszierende Erscheinung unter dem Dach. Der Umriß ihres Körpers war wie ausgelöscht.
    Josefina hatte sich hinter irgendwelchen Linien versteckt, die vom Boden auszugehen schienen. Mit dem angewinkelten Unterarm hatte sie die Linien so zusammengeschoben, daß sie ihren Körperumfang verbargen. Ihr gebauschtes Kleid war dabei eine große Hilfe; irgendwie hatte es ihre Leuchtkraft zusammengezogen. Das Kleid wirkte nur für das betrachtende Auge gebauscht. Am Schluß ihrer Vorstellung war Josefina, ähnlich wie Lidia und Rosa, nur noch ein Lichtfleck. Ich konnte in Gedanken von einer Erinnerung zur anderen umschalten.
    Als ich den

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