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Don Juan de la Mancha

Don Juan de la Mancha

Titel: Don Juan de la Mancha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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mitkommen.
    Es gab damals in Wien ein Programm-Kino, das STAR-Kino im siebten Bezirk, das regelmäßig »Wochen« machte. Die »Woche des Film Noir«, »Die Woche des Western«, und just, als ich Alice fragte, die »Woche der Liebe«. Eine Woche lang täglich drei Filme, die wichtigen des Genres.
    »Die Woche der Liebe«. Ich hatte Glück. Es stellte sich immer erst später heraus, dass es ein Verhängnis war, wenn ich Glück hatte.
    Heute, wenn ich zurückdenke, frage ich mich, wie es möglich war, dass wir so viele Bilder sehen konnten, aber nicht ein einziges, das wir als »unser Bild« hätten betrachten können und das als solches Bestand hätte.
    Exkurs: Es war die Zeit, in der erstmals mehr Bilder produziert wurden als gedruckte Worte, aber es gibt kein Bild und kein Dokument, das als Sinn- und Abbild dieser Zeit gelten könnte, so wie die großen Romane, die über Jahrhunderte hinweg, mit Epochen-Prägestempel, immer aufs Neue gezeigt haben: Jeder liebt zu seiner Zeit, wie er nicht kann. Die Epoche, die mich in der Werbung ignorierte, ignorierte mich auch in der Liebesliteratur und im Liebesfilm. Diese Zeit hatte kein Werk wie »Tristan und Isolde« oder »Romeo und Julia« hervorgebracht, weder »Werther« noch »Wahlverwandtschaften«, keine »Effi Briest« und keinen »Reigen« (was noch einigermaßen nahegelegen hätte), nichts, absolut nichts, das Rückschlüsse darauf ermöglichen würde, auf welch historisch neue Art in dieser Zeit an der Liebe gelitten wurde. Die Bilder der Liebenden von »Woodstock« zeigten nur Menschen, die im Versuch, sich zu befreien, vergaßen, sich vom Pathos zu befreien – aber so waren wir nicht, die wir uns so angestrengt um Kälte und analytische Schärfe bemühten. Die Bilder von John Lennon und Yoko Ono bei einer Pressekonferenz im Bett zeigten lediglich, dass das Bett als Ort der Provokation gesehen wurde, aber nicht, was an zeitgeistigen Eigentümlichkeiten darin geschah. Andererseits: Was hätte es schon zu sehen, zu erzählen gegeben? Die einzigen authentischen Dokumente wären wohl Tonbandaufnahmen gewesen, von Kassettenrecordern, die wir unter dem Bett hätten verstecken müssen. Jede Liebesnacht war ein Konversationsstück.
    Alice und ich stiegen an einem Donnerstag in die »Woche der Liebe« ein, am Samstag gingen wir ins Bett.
    Wir sahen »Love Story« mit Ryan O’Neil und Ali MacGraw. Liebe heißt, niemals um Verzeihung bitten zu müssen. Das war der zentrale Satz in einem Film, in dem eine fünfundzwanzigjährige Frau stirbt – nachdem sie ihrem Mann ewige Treue geschworen hatte, bis dass der Tod sie scheide. So groß war die Liebe. Mit fünfundzwanzig tot. Etwa das Alter, in dem Alice und ich den Film sahen.
    Nur Tote müssen nicht um Verzeihung bitten, sagte Alice.
    »Szenen einer Ehe« von Ingmar Bergman, ein Alterswerk, aber wir waren jung. Eine Frau und ein Mann treffen sich viele Jahre nach ihrer Scheidung wieder, reden.
    Die Zeit, über die sie reden, liegt weiter zurück als unsere Geburt, sagte Alice, und genau so reden sie.
    Die Frau wurde von Liv Ullmann gespielt, aber wie hieß der Mann? Wieso habe ich den Mann vergessen?
    »Der letzte Tango«. Mann (Marlon Brando), dessen Frau sich das Leben genommen hatte, trifft junge Frau (Maria Schneider), gibt Spielregeln vor, und die junge Frau bedient folgsam den düsteren Omnipotenten.
    Poppe und Pöppchen, sagte Alice. So hättet ihr es gern.
    Ich habe einige Szenen dieser Filme versäumt, weil ich Alice beobachtete. Wie sie sich vorbeugte und am Daumennagel kaute.
    Das war meine gemischte Liebe.
    41.
    Wenn es gar so toll wäre, da drinnen etwas stecken zu haben, dann wäre ich doch auch jedes Mal erregt, wenn ich ein Tampon verwende, sagte Alice.
    Ich glaube, dass mich dieses Argument allein deshalb überzeugte, weil es mich verblüffte. Es klang unmittelbar logisch. Und ich hatte das noch nie so gesehen.
    Wir saßen nackt auf meiner Matratze – ich hatte damals in der Lassallestraße noch immer kein Bett, bloß eine Matratze auf dem Boden. Neben der Matratze lagen Bücher, Poppes Habilitation, entlehnt aus der Nationalbibliothek, Flaubert (ich las eben zum zweiten Mal »Die Erziehung der Gefühle«), Dostojewski (endlich las ich »Die Dämonen«), und Zeitungen, »Die Zeit«, »Der Spiegel« und »Der Widerspiegel« (Bulletin des Lukács-Arbeitskreises). Daneben ein billiger Hornyphon-Plattenspieler. Mein Vater hatte damals eine Geliebte, die in der Hornyphon-Fabrik in Wien-Simmering arbeitete (er

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