Don Juan de la Mancha
einen Mann allein an einem Tisch vorn im Schankraum, das dritte denselben Mann und einen Mann mit Schürze vor dem Gasthaus. Daneben zwei vergilbte Titelseiten der »Neuen Freien Presse« mit den Schlagzeilen »Der Fall Bettauer« und »Freispruch für Bettauer«. Drei mit Hand beschriebene Blatt Papier, die Tinte schon sehr blass. Eine alte Speisekarte mit handschriftlichen Anmerkungen am Rand. Ein Schuldschein. Eine getrocknete, verschrumpelte, blasse Rose. Drei Bücher von Hugo Bettauer, die Titel: »Die lustigen Weiber von Wien«, »Die schönste Frau der Welt« und »Gekurbeltes Schicksal«. Eines war aufgeschlagen, sodass man die persönliche Widmung (»Meinem Leib- und Seel-Sorger, dem guten Franz Xaver Hebenstreit zugeeignet«) sehen konnte. Zwei Zeitschriften: eine Ausgabe von »Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskunst und Erotik« und eine von »Küche und Keller. Wochenalmanach für Koch- und Lebenskunst«. Beide vergilbt. (Auf der Titelseite von »Er und Sie« die Rückenansicht einer nackten, muskulösen Frau, die mit zurückgeneigtem Kopf und ausgebreiteten Armen – »Der Gruß an die Sonne« – auf einer Wiese vor einem See steht.) Eine Zigarettenschachtel »Ägyptische Sorte«. Eine Postkarte, adressiert an Hrn. F. Hebenstreit im gleichnam. Gasthaus in Wien, 8. Bezirk.
Das ist ein Stammgast gewesen, noch vom seligen Großvater, sagte Uschi. Da steht’s.
Auf einem Messingschild in der Mitte der unteren Rahmenleiste des Schaukastens stand: »Zur Erinnerung an den bekannten Journalisten und Buchautor Hugo Bettauer, der in den Jahren 1922 bis 1925 regelmäßig hier speiste, schrieb und debattierte, zuletzt am 9. März, dem Vorabend des Attentats, an dessen Folgen er am 25. März 1925 verstarb.«
Irgendwann nach dem Krieg hat der Großvater das alles machen lassen, sagte Uschi. Heute kennt den keiner mehr, diesen Bettauer, aber da im Hinterzimmer stört es ja auch nicht, sagt der Vater. Und die Fotos vom Vater mit dem Herrn Maier, also dem berühmten Martin Maier von der Zeitung, und mit dem Herrn Schiejock vom Fernsehen und die anderen hängen vorn im Schankraum.
Wir sahen uns um, sahen uns an. Das war es, absolut sinnig für unsere AG, das war uns ohne Worte klar.
Ob wir diesen Raum bis auf weiteres einmal in der Woche reservieren können?
Kein Problem, sagte Uschi. Außer Donnerstag und Freitag. Donnerstag ist reserviert für den Sparverein, und am Freitag treffen sich die Kameraden.
Welche Kameraden?
Alte Männer.
Dienstag wäre gut, sagte ich.
Kein Problem. Ich trag’s ein. Wie ist der Name?
Vesely, sagten Alice und ich gleichzeitig.
37.
Jetzt, wenn wir so darüber reden, denke ich: Ich möchte gern ins Hebenstreit gehen, wenn es überhaupt noch existiert, und schauen, wie die Uschi heute aussieht.
Warum, Nathan?
Uschi war sexy. Und ich frage mich heute, warum ich damals nicht darauf reagiert habe, animalisch, zumindest in der Phantasie. Wie wir lebten, das lief doch auf eine Art Zölibat hinaus. Ein Mann und eine Frau gingen ins Bett, um keine Lust zu haben. Um zu versagen, ich meine, sich die Lust zu versagen. Es war alles verboten, was bloße Lust, zumindest lustig hätte sein können, ohne anderen Zweck als dem: Lust zu empfinden. Bei den Pfaffen muss Liebe immer dienen: sie dient Gott, sie dient der Fortpflanzung, sie dient dem Erhalt der Familie, sonst ist sie ein Tabu. Wir haben das Tabu nicht gebrochen, wir haben uns nur als Dienstleister neu definiert. Denn unsere Liebe musste auch dienen: der Frauenbefreiung, der Emanzipation von Geschlechterrollen, und letztlich auch Gott.
Gott?
Gott ist das Ideal der Liebe, die Strafe und das Verzeihen. Und nichts anderes haben wir angebetet. Ich frage mich plötzlich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich damals nicht Alice angebetet, sondern wenn ich die Chance gehabt hätte, diese Uschi einfach zu dings –
Dings?
Bitte, Hannah! Wie soll ich denn sagen? Liebe machen ist spießig und außerdem völlig verlogen, weil ich ja nicht Liebe meine, sondern Lust. Geschlechtsverkehr ausüben? Zeugungsadjustierung exekutieren?
Ficken.
Okay.
Sie haben offensichtlich damals Alice idealisiert. Ich weiß noch nicht warum. Aber ich weiß, dass es nichts besser macht, wenn Sie heute rückblickend diese Wirtin mit dem großen Busen idealisieren. Also, was war mit Alice? Warum wollen Sie jetzt plötzlich diese Alice in Paris Wiedersehen?
38.
»AG PUBLIZISTIK. Wir trefen uns jeden Dienstag um 19 Uhr im Gasthaus Hebenstreit,
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