Don Juan de la Mancha
man ein Geheimnis zu, das kostbarer sein muss als die offen ausgestellte Sinnlichkeit der Brasilianerinnen. L’amour hat eben noch einen anderen Klang als das ausgelutschte amor, amore oder gar love. Eine Pariserin mit einem Pudel ist schick, eine Wienerin mit einem Dackel ein Elend. Und die Boulevards! Welch Genuss, in eine Stadt zu kommen, in der »Boulevard« nicht das Synonym für ressentimentgeladene Zeitungen ist, sondern das Reich des Flaneurs!
Ich landete in Paris, aber ich kam in eine andere Stadt. Es begann auf ärgerliche, aber noch unscheinbare Weise damit, dass Alice, die versprochen hatte, mich am Flughafen Charles de Gaulle abzuholen, nicht da war. Ich blickte mich suchend um. Ich spürte, dass ich dieses angespannte Erwartungsgesicht aufgesetzt hatte, das ich für den Ausdruck größter Wiedersehensfreude bereithielt. Diese Anspannung wollte erlöst sein. Wo war sie? Hatte sie sich so sehr verändert? Wer war sie? Wann konnte ich endlich emphatisch lügen und sagen: Du hast dich überhaupt nicht verändert! Und sie würde sagen: Du dich auch nicht! Und ich würde ihr glauben, denn sie hat mich wiedererkannt und ich sie nicht.
In jeder Frau ungefähr meines Alters, die ich sexuell attraktiv fand, versuchte ich, Alice wiederzuerkennen, in jeder, die mir gefiel, wollte ich Alice entdecken. Da sah ich eine Frau, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Alice hatte. Die Ähnlichkeit traf zu, und auch das Entfernte. Ich sah sie an, fragend, bereit, sehnsüchtig. Sie würdigte mich keines Blickes, ich erinnerte sie offenbar an niemanden. Bitte erkenne mich, umarme mich freudig, küsse mich gerührt! Sie war nicht Alice, aber ich wünschte mir und hoffte, dass sie es sei. Sie war der Typ. Ich bin ja bereits in dem Alter, in dem man sich eingestehen kann, dass man einen »Typ« hat. Das, was man einen »Typ« nennt, kann man nur abstrakt allgemein beschreiben, sonst wäre es ja auch kein Typ, aber eine abstrakt allgemeine Beschreibung kann nie einsichtig machen, warum man einen Menschen begehren kann, der diesem Typ entspricht. Ich glaube, es war Bormašin, der gesagt hatte: Sage nie zu einem Obst, dass du Obst liebst! Jedes Obst ist ein Feind des Begriffs »Obst«.
Diese Frau jedenfalls sah sich suchend um. Das hätte gepasst. Ich sah ihre Arme, genau die Arme, von denen ich umarmt sein wollte. Sie war gut einen Kopf größer als Alice. Wahrscheinlich auch etwas jünger, aber das kann man bei der Joghurt-und-Yoga-Generation nie wirklich wissen. Und ich dachte darüber nach, ob Alice – wie alt war sie damals? – mittlerweile noch gewachsen sein konnte. Unsinn! Noch fand ich alles witzig. Ich lachte innerlich über mich selbst. Und wurde immer unruhiger. Wo war Alice? Sie war nicht da. Jetzt erst fiel mir auf, wie wenig Menschen hier auf ankommende Passagiere warteten. Bald befanden sich vor dem Ankunftstor nur noch diese Frau, die auf jemanden wartete, der nicht angekommen ist, und ich, der ich angekommen war, ohne dass da jemand auf mich wartete. Die Frau nahm ein Handy aus ihrer Handtasche – ich fand es rührend, dass sie dann, um die Nummer drücken zu können, auch noch eine Lesebrille aus ihrer Tasche holte –, hielt das Handy an ihr Ohr und ging auf und ab. Diese langen schlanken Beine, der runde Hintern. Kehrtwendung. Die großen Augen hinter ihrer Lesebrille. Die gerunzelte Stirn. Das Handy. Erst jetzt fiel mir ein, auch mein Telefon wieder einzuschalten.
Zwei neue Nachrichten.
SMS von Alice: »Mein Auto brennt! Komme nicht raus!«
Zweite SMS von Alice: »Nimm Taxi zum Hotel, sehen uns dort!«
Ich hielt die Formulierung »Mein Auto brennt« für eine Floskel, eine französische Redewendung, die Alice einfach wörtlich ins Deutsche übersetzt hatte, und die vielleicht nichts anderes bedeutete als: Ich habe so viele Wege, dass die Reifen glühen, ich schaffe es jetzt nicht zu dir.
Ich rief Alice an. Eine Computerstimme sagte, dass die gewählte Nummer im Moment nicht erreichbar sei. Ich ging raus zu den Taxis. Da war wieder diese Frau, die Hoffnungs-Alice. Da waren viele Menschen. Nach und nach stiegen sie in Taxis, ich feilte in meinem Kopf an einer eleganten Formulierung, mit der ich der Unbekannten vorschlagen wollte, ein Taxi zu teilen, am Himmel standen schwarze Wolken, ein Mensch schrie und pfiff und winkte und deutete, und bewirkte dadurch, dass geschah, was auch ohne ihn geschehen wäre: nämlich dass einer nach dem anderen in ein Taxi einstieg. Ein Blitz und dann die Nacht. Zum
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