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Don Juan de la Mancha

Don Juan de la Mancha

Titel: Don Juan de la Mancha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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öffentliches Telefon. Der Hörer baumelte herunter. Vier Jugendliche standen daneben. Sie hatten eindeutig das »Voom-Voom-Syndrom«, das heißt, sie schauten so überheblich lässig, dass es fraglich war, ob sie überhaupt etwas sahen. Sie sahen nicht einmal den baumelnden Telefonhörer. Trafen keine Anstalten, ihn in die Gabel zurückzuhängen. Und auch sie redeten nicht. Sie schauten. Sie hatten Jacken an, auf denen viel zu groß ein Markenname stand. Weite Hosen, die ihnen über das Gesäß rutschten, riesige Turnschuhe. Zwei hatten die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf gezogen, blickten mit gesenktem Kopf verächtlich unter der Kapuze hervor. Ich beobachtete sie zwei Zigaretten lang. Sie sprachen kein Wort. Sie standen. Schauten. Wippten. Sie hatten sich irgendwie besorgt, was man ihrer Meinung nach haben musste, um dazuzugehören, die Jacken mit Kapuzen, diese runterhängenden Jeans, die Turnschuhe. Und gehörten wieder nicht dazu. Sie hatten in Filmen gesehen, dass Burschen, die so aussahen, etwas erlebten, und jetzt sahen sie selbst so aus und erlebten nichts. Verlorene Liebesmühe. Hassmühe. Konnten nicht einmal reden. Sie sind betrogen worden. Sie sind Opfer. Les trois frères: Weggegangen-Sein, Hier-Sein, Nicht-angekommen-Sein.
    Ich drückte die Wiederwahltaste meines Handys. Ich fühlte mich überfordert bei der Vorstellung, mit der Metro zu meinem Hotel zu finden. Mit welcher Linie? Ich wusste ja nicht einmal, bei welcher Station ich aussteigen müsste. Alice sollte mich hier abholen. Tote Leitung.
    Ich sah aus dem Fenster. Verachtung. Mitleid. Nein, doch Verachtung. Auf der anderen Straßenseite zwei Frauen mit Kopftüchern. Sie liefen. Kurz darauf noch eine Frau mit Kopftuch. Auch sie im Laufschritt. Noch eine mit zwei Kindern. Sie lief so schnell, dass sie die Kinder fast nachschleifte.
    Ein Mann kam aus einem kleinen Laden heraus, ließ die Rollbalken herunter. Dann noch einer und noch einer, wie auf einen Gongschlag rasselten die Rollbalken herunter.
    Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch immer nicht vom Kellner gefragt worden war, was ich wolle. Ich sah mich um, winkte dem Mann hinter der Schank. Er tat so, als sähe er mich nicht. Ich rief. Monsieur! Ich schrie. Es war gespenstisch. Kein Mensch in diesem Raum redete. Aber alle schauten. Mein Schrei war wie eine Mundbewegung in einem Stummfilm, und nun warteten alle auf das Insert, um lesen zu können, was ich wohl gerufen hatte. Der Kellner machte aber den Eindruck, als wäre er auch an Stummfilmen nicht interessiert. Er schaute nicht zu, sondern wischte mit gesenktem Kopf die Theke blank. Ich stand auf. Ich wollte ein Bier. Ich schrie: Könnte ich bitte ein Bier haben?
    Nichts. Keine Reaktion.
    Ich nahm meinen Rucksack und verließ das Café. Ich wollte kein Bier mehr.
    Ich wollte Schnaps. Die Jugendlichen vor dem Café schauten auf. Einer sagte etwas. Ich verstand ihn nicht. Ich erwartete mir keine Verbesserung meiner Lage, wenn ich stehenblieb und nachfragte, was er gesagt hatte. Ich ging weiter. Ich spürte Bewegung hinter mir, schaute zurück. Die Jugendlichen. Plötzlich waren es mehr. Sieben oder acht. Ich lief zur anderen Straßenseite, zur Metrostation, die Treppen hinunter. Es war wie eine Grube, in die man Hunderte von Menschen hineingekippt hatte. Und jetzt krabbelten und stießen sie, um obenauf zu kommen, sie rempelten, sprangen über die Absperrung, ein Kind mittendrin, das unausgesetzt schrie, im Gedränge umgestoßen wurde, wieder aufstand und weiterschrie, wieder umgestoßen wurde. Natürlich wollte ich sofort hin zu dem Kind, es aufheben, verhindern, dass es niedergetrampelt werde. Ich lief so schnell ich konnte – aber nicht zu diesem Kind, sondern die Treppe hinauf zur Straße, rettete lieber das Kind, das ich selbst war. Ich lief und lief nur noch. Meinen Rucksack, den ich bis jetzt in der Hand getragen hatte, nahm ich nun auf den Rücken, um besser laufen zu können. Und immer wieder drückte ich auf Wiederwahl bei meinem Handy. Wenn die Computerstimme kam, legte ich auf, drückte erneut auf Wiederwahl. Ich lief und lief und versuchte Straßenschilder zu lesen, ich musste Alice sagen können, wo ich mich befand. Rue Paul Vaillant Couturier, da waren vermummte Gestalten, mit Tüchern vor dem Gesicht oder tief über das Gesicht gezogenen Kapuzen, ich schlug Haken und rannte, rue Gabriel Perri (da sah ich sie: brennende Autos!), ein Park, hinein in den Park, nein, da brannte alles Mögliche, nur nicht die Laternen, nichts

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