Don Juan de la Mancha
Schreiner, Landesschulinspektor; Susanne Lemberg, Überlebende.« Die einzige Frau auf dem Podium war »Überlebende«. In der Liste der Namen und Berufsbezeichnungen war die Berufsbezeichnung »Überlebende« so grotesk, so obszön, dass mir dies die Schwellenangst vor dem Tempel nahm.)
Ich kaufte also den deutschen Porno »Alle Lust will Ewigkeit« und einen amerikanischen mit dem Titel »Service Animals«. Die Titel schienen auf kulturelle Unterschiede zu verweisen: Definiert sich eine Gesellschaft über ihre Dichter oder über ihre Dienstleistungen? Beide Definitionen sind Dienstleistungen.
Nach schneller und kurzer Erregung langweilten mich diese Filme unendlich. Warum? Weil Langeweile die einzige Form der Ewigkeit ist, die wir Sterbliche erleben können? Ich wollte die DVD schon stoppen, als ich plötzlich eine Entdeckung machte, die mich zu faszinieren begann. Die Langeweile rührte nicht daher, dass jeder Geschlechtsakt im Grunde monoton war und daher mit der Zeit langweilig werden musste. Nein, die Schauspieler waren unfähig, über das rein Technische hinaus, Lust darzustellen. Das fand ich bemerkenswert, letztlich verblüffend: Diese Schauspieler waren Profis, darauf spezialisiert, nichts anderes vorzuführen als das, was angeblich alle Menschen auf diesem Planeten bei jeder sich bietenden Gelegenheit tun. Mit aller Wahrscheinlichkeit auch sie selbst, wenn keine Kamera dabei ist. Aber kein Taxifahrer würde in einem Film einen Taxifahrer so unglaubwürdig spielen, wie diese vögelnden Männer und Frauen vögelnde Männer und Frauen darstellten. Ich kann verstehen, wenn ein gesunder junger Schauspieler, der regelmäßig joggen geht, nicht imstande ist, den King Lear zu spielen. Aber wie ist es zu erklären, wenn dieser Schauspieler auch nicht fähig ist, glaubwürdig einen Jogger darzustellen? Scheitert er am Unterschied zwischen Joggen und Joggen-Darstellen? Nun sind nicht alle Jogger Schauspieler. Aber manche Schauspieler sind Jogger. Profi-Schauspieler, die auch leidenschaftliche Jogger sind, dürften also kein Problem damit haben, einen Jogger darzustellen. Schauspielen und Realität haben immer eine große Schnittmenge: Ein alter Mann zum Beispiel ist ein alter Mann ebenso, wie er einen alten Mann darstellt .Das ist die Gemeinsamkeit zwischen dem King Lear auf der Bühne und meinem Großvater beim Mittagessen. Oder zwischen dem Minetti und Herrn Minetti. Der eine verbürgt die Glaubwürdigkeit und Authentizität des anderen. Wenn allerdings ein Schauspieler einen alten Mann nicht glaubwürdig darstellen kann, dann heißt das, dass er nicht die geringste Ahnung davon hat, wie es ist, alt zu sein – entweder weil er selbst nicht alt ist, oder weil er, alt werdend, nie wirklich alt wurde. Deshalb begannen mich die Pornofilme so sehr zu faszinieren: Erwachsene Menschen, die doch wissen mussten, was Lust ist, und die unabhängig von einer Kamera entsprechende Erfahrungen haben mussten, zugleich Profi-Schauspieler in just diesem Fach, schafften es nicht, Lust glaubwürdig darzustellen. Warum also? Weil sie selbst nicht wussten, was Lust ist? Weil sie nicht wussten, wie Lust sich zeigt und ausdrückt? Weil sie sozusagen Gelähmte waren, die Jogger darstellen sollten, Pubertierende, die einen Alten zu geben versuchten? Es ist schon klar, dass es nicht lustvoll ist , vor Kamera und Scheinwerfern zu vögeln, es geht nur darum, ob man den Anschein erwecken kann. Dieses outrierte Augenrollen! Dieses lächerliche mit der Zunge über die Oberlippe Streichen! Ein Schauspieler muss sich doch fragen: Wie ist es, wenn ich es nicht spiele. Und das ist dann das Material, mit dem er spielt.
Ich wurde heiter. Ich sah zu, dachte: Diese Menschen haben Sex, als hätten sie noch nie zuvor Sex gehabt. Und ausgerechnet beim ersten Mal ist eine Kamera dabei. Vielleicht aber zeigten diese Filme nur, dass niemand wusste, was Lust ist und wie sie sich ausdrückt.
Man sah nicht, wie man es macht, man sah das Gemachte, nicht wie die Lust spielt, sondern nur das Gespielte.
Bert Brecht musste die Idee des epischen Theaters im Bett gehabt haben.
Niemand weiß, was Lust ist? Christa! Ich musste zurück in die Stadt!
68.
Die »Knochenfabrik« befand sich am Rand der Gemeinde Groß-Schweinskreutz, in der ich mein Wochenendhaus hatte. Mir ist erzählt worden (ich weiß nicht, ob es stimmt, habe es nie überprüft), dass diese Fabrik Ende 1944 gebaut worden ist, um die Knochen der getöteten und nicht verbrannten Juden,
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