Don Juan de la Mancha
Zwangsarbeiter, Widerstandskämpfer zu verarbeiten. Zu Dünger, zu Tierfutter oder zu Suppenwürfeln oder zu anderem, ich weiß es nicht, da wurden verschiedene Geschichten erzählt. Aber es kam das Chaos, schließlich das Kriegsende, bevor diese Fabrik ihren Betrieb aufnehmen konnte, weshalb sie nach 1945 von ihrer Fertigstellung an nichts anderes tat, als zu verrotten. Sie wurde jahrzehntelang nicht abgerissen, zum Verschwinden gebracht, sie war da, neu, unbenützt, schließlich alt, eine Ruine, die im Volksmund »Knochenfabrik« genannt wurde. Ästhetisch ein beunruhigendes Mittelding aus Industriearchitektur der Gründerzeit, Speer-Pathos und schottischem Spukschloss. In den neunziger Jahren, als ich das Haus hier kaufte, wurde auf dem Gelände der »Knochenfabrik« eine Disco-Halle hingestellt. Ich ging an einem Freitagabend hin. Damals hatte ich noch den Anspruch, die Umgebung meiner Lebensorte zu erforschen. Ich fühlte mich nicht nur nicht zu alt, ich fühlte mich noch nicht alt. Es war langweilig. Im Grunde ewiges Voom Voom. Ich ging an die frische Luft. Ich sah, wie immer wieder Pärchen aus der Disco rauskamen und zur »Knochenfabrik« schlenderten, durch das verrottete Tor hineinschlüpften. Ich wurde neugierig, ging auch zur Fabrik, hinein, sah, wie die Pärchen da schmusten und sich mit rührend bemühter Forschheit an die Wäsche gingen. Akkord-Petting in der Fabrikhalle.
Ich war allein, ich war nicht siebzehn, ich fiel unangenehm auf.
Wer ist der Opa da?
Was will er? Hau ab, Opa!
Ich war eifersüchtig auf ihre Unschuld. Keine Frau hatte mich je so eifersüchtig gemacht.
Als die »Knochenfabrik« vor zwei Jahren abgerissen werden sollte, gab es Protestaktionen der lokalen Sektion der Sozialistischen Jugend. Es wurden Unterschriften gesammelt. Ich unterschrieb. Ein kleines, separat stehendes Bürogebäude der Fabriksanlage wurde daraufhin halb zum »Jugendzentrum«, halb zum »Gedenkzentrum Knochenfabrik« adaptiert. Dort, wo die Fabrik gewesen war, wurde ein Shopping-Center errichtet: das »Erlebnis-Shopping«.
In diesem Shopping-Center kaufte ich mir nun einen neuen Anzug. Der, mit dem ich hierhergefahren war, war zerknittert, als hätte ich darin geschlafen. Vielleicht habe ich darin geschlafen. Außerdem war er so fleckig, dass er wohl kaum von einer Putzerei gerettet werden konnte. So wollte ich nicht nach Wien zurückfahren. Danach kaufte ich eine neue Uhr. Ich weiß nicht warum. Ich wollte einfach noch etwas kaufen.
69.
Der Entschluss, nach Wien zurückzufahren (und wohl auch das Shopping), hatten mich so erschöpft, dass ich noch Tage brauchte, um ihn auszuführen. Ich badete nicht mehr. Ich saß in der Küche und rauchte. Immer wieder versuchte ich zu lesen. Als wäre Lektüre ein Fenster zur Außenwelt. Ist sie ja. Weltliteratur. Ich war ungeduldig beim Lesen. Martin Walser, Der Augenblick der Liebe. John Updike, Landleben. Philip Roth, Jedermann. Wieso lag in diesem Haus so viel Altmännerliteratur herum? Mußte ich irgendwann gekauft haben. Was sagt das aus? Dann hatte ich diese Bücher doch nicht lesen wollen. Was sagt das aus? Jetzt las ich sie und empfand dabei diese Art Ungeduld, die man hat, wenn man mit jemand redet und weiß, dass er lügt. Um sein Lügen zu verstecken, erzählt er immer mehr Details, die die Glaubwürdigkeit verbürgen sollen. Sie konnten wunderbar schreiben, beschreiben, erzählen. Wenn aber eine Romanfigur sich verliebte, wurde die Sprache zur Massenware und nur die Lüge stand nackt da. »Es treiben«, »es jemandem besorgen«, »stoßen« – dieses Vokabular beschreibt nicht, wie wir Lust ausleben, sondern wiederholt bloß die sprachlichen Signale, die sie in uns wecken soll. Seltsam, dass sich so große Autoren bei der Beschreibung einer Landschaft an den schönsten Beispielen der Literaturgeschichte orientieren, bei der Beschreibung von Sex aber an billigen Illustrierten. Das Furchtbarste war, dass ich den Autoren glaubte, dass sie die amourösen Abenteuer, die sie erzählen, wirklich selbst so erlebt haben. Deshalb wissen sie nicht einmal, wie sehr sie lügen. Dann las ich einen amerikanischen Krimi, »Aufschneider« von Susanna Moore. Auf der Rückseite des Taschenbuchs klebte noch das Etikett einer Bahnhofsbuchhandlung. Plötzlich der Satz: »Eines der Dinge, die mich am Sex interessieren, ist die Tatsache, dass er ein Komplott improvisierter Mythen darstellt.« Ein solcher Satz in einem Krimi! Ich weiß nicht, ob ich ihn verstanden habe, aber
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