Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
Frontscheibe zu sehen sind,
erinnern den Hauptkommissar an eine antike Basilika. Der Nieselregen, der seit seiner
Ankunft in Frankfurt nicht abgerissen ist, hat die Erde aufgeweicht und Kuhlen mit
Wasser gefüllt. Swensen muss aufpassen, dass er nach dem Aussteigen mit seinen Halbschuhen
nicht ungewollt in eine der Pfützen tritt. Er marschiert über den schlammigen Feldweg
durch den Weinberg bis unter den schützenden Giebelvorbau des Portals. Als er dort
ankommt sind Haare und Kleidung mit Feuchtigkeit vollgesogen. Fröstelnd betritt
er den Kirchenraum und wird augenblicklich von der geheimnisvoll gedämpften Farbigkeit
der Wandgemälde in den Bann gezogen. Die geraden Linien der Abbildungen aus den
Testamenten spiegeln die geraden Linien der Architektur wieder. Das Ganze findet
seinen Höhepunkt in einer monumentalen Christusfigur in der Apsis des Kirchenschiffs,
deren Goldgrund den byzantinischen Mosaiken nachempfunden ist. Die ausgebreiteten
Arme strahlen etwas Einladendes aus. Swensen spürt plötzlich einen inneren Frieden
mit sich selbst, setzt sich berührt auf eine Holzbank und schließt die Augen. Er
hört, wie sich der Kirchenraum langsam mit Besuchern füllt. Als er seine Augen wieder
öffnet, tritt gerade eine Nonne in schwarzem Habit und schwarz-weißer Haube aus
dem Seitenflügel. Mit andächtiger Bewegung entzündet sie die Kerzen im halbkreisförmigen
Altarraum. Im wärmenden Schein werden dem Hauptkommissar seine durchweichten Schuhe
wieder bewusst. Zumindest die klamme Jacke legt er zum Trocknen über die Rückenlehne
der vorderen Sitzbank. Im selben Moment erklingt aus einem Nebenflügel der Klosterkirche,
der nicht einsehbar ist, ein heller liturgischer Choralgesang. Quia ergo femina
mortem instruxit, den Tod, den eine Frau gebracht, singen Frauenstimmen engelsgleich,
und dem Kriminalisten läuft eine Gänsehaut den Rücken hinunter, die nicht von der
Kälte kommt. Kurze, einfache Melodiephrasen wiederholen und variieren sich. Mit
seinen lange nicht genutzten Lateinkenntnissen versucht er, das Lied im Kopf zu
übersetzen.
Den Tod,
den eine Frau gebracht,
hat eine
Jungfrau überwunden.
So ruht
der höchste Segen
– vor jeder
Kreatur –
auf der
Gestalt der Frau.
Denn Gott
ist Mensch geworden
in einer
Jungfrau, einzig geliebt und gesegnet.
Die sphärischen Klänge erfüllen
die Klosterkirche bis in den letzten Winkel, verbreiten eine meditative Ruhe, der
Swensen sich vollkommen hingeben kann. Sein Körper schwingt zwischen Ton und Stille
mit, hebt vom Boden der Zeit ab, und die Welt um ihn herum ist außer Kraft gesetzt.
Er ist nur noch Empfindung, lässt Schönheit und Harmonie in sein Herz eindringen.
Es ist das Wunder der Gegenwart, das Hier und Jetzt, bis die Stimmen aushallen,
sich in der Stille des Schweigens verlieren. Erst das Knarren der Bänke holt den
Hauptkommissar zurück, die Besucher verlassen mit hallenden Schritten den Raum der
Andacht. Swensen quält sich in seine noch klamme Jacke und folgt ihnen langsam nach.
In der Zwischenzeit ist der trübe Himmel wieder aufgezogen, die Sonne versteckt
sich aber noch hinter den Wolken. Im kleinen Garten kommt der Hauptkommissar an
einer Bronzeskulptur der Hildegard von Bingen vorbei, die unter einem Umhang ihre
Arme vor der Brust kreuzt. Der Anblick erinnert ihn an einen Artikel von Oliver
Sacks, den er einmal von Anna zum Lesen bekommen hat. Der Neurologe diagnostiziert
darin die halluzinatorischen Lichterscheinungen der Benediktinerin als Skotom, den
Blinden Fleck, und als ein Symptom einer schweren Migräne.
Der spirituelle
Weg kann einem manchmal schon einige Kopfschmerzen bereiten, scherzt der Kriminalist
innerlich und überlegt, wie er in dieser großen Klosteranlage am schnellsten Schwester
Damaris finden kann. Er entscheidet sich, einfach im Klosterladen nach ihr zu fragen.
Den Wegweiser dorthin hat er bereits vor dem Gang in die Kirche entdeckt. Er muss
nur den Weg, den er gekommen ist, noch ein kleines Stück weiter hinaufgehen. Schon
durch die gläserne Eingangstür registriert Swensen, dass die Ladenräume voller Käufer
sind, die eben noch mit ihm andächtig den Gesängen gelauscht haben. Jetzt belagern
sie die wenigen Schwestern an der Kasse und stehen der kleinen Anfrage des Hauptkommissars
im Wege. Abwartend schlendert er an dem Angebot der religiösen Bücher, Ikonen, Karten,
Kunst, Keramik und Kalender vorbei und hofft, dass der erste Ansturm auf die Kasse
bald vorbei ist. In einem Regal entdeckt er im
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