Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
Hauptkommissar die Haustür. Das blinkende Lämpchen des Anrufbeantworters
wirft einen roten Streifen auf die Flurgarderobe. Im Vorbeigehen tippt er auf den
Abhörknopf. »Sie haben eine neue Nachricht«, tönt die sterile Frauenstimme hinter
ihm her. Er schnürt bereits in der Hocke sitzend die Schuhe auf, als die leicht
quäkende Nachricht startet.
»Hallo,
Schnüffelhase! Du wirst dich wundern, dass ich nicht zuhause bin, aber es kann noch
etwas dauern. Ich hab auf dem Kongress eine interessante Frau kennengelernt, die
Leiterin einer Traumaklinik in der Schweiz. Sie hat mich eingeladen, mir dort ihre
Arbeitsweise zu zeigen. Die Gelegenheit kann ich mir nicht entgehen lassen. Ich
bin deshalb auch telefonisch schwer erreichbar, weil ich bei den Therapien dabei
sein darf. Mach dir eine gute Zeit, ich ruf dich wieder an!«
In die Küche
setzt der Hauptkommissar Wasser für einen Tee auf und spürt das große Haus, das
er allein ausfüllen muss. Obwohl Anna und er nicht allzu viel Zeit miteinander verbringen
können, ist sie meist daheim, wenn er vom Dienst kommt, und die Spuren ihrer Anwesenheit
sind überall zu sehen. Jetzt empfindet er eine Leere, als wären die Gegenstände
nicht von ihr beseelt. Als er sich mit dem Tee ins dunkle Wohnzimmer setzt, hat
er plötzlich das Gesicht seiner Mutter vor Augen. Er hatte schon fast geglaubt,
das Bild wäre nach ihrem Tod verloren gegangen. Er sieht ihren Ausdruck von Schrecken,
als sie zusammen in der Küche stehen und die Sirenen für einen Probealarm losheulen,
der auf- und abschwellende Ton, der von zwei Pausen unterbrochen wird.
»Das war
der Voralarm, damals«, sagt sie. »Danach kamen die englischen Flieger und sind zum
Flugplatz rüber! Die Explosionen, man konnte sie bis in die Stadt hören. Wir hatten
viel Alarm, hier in Husum, wegen dem Flugplatz.«
Er sieht
ihre müden Augen, in denen der Schrecken des Krieges aufblitzt. Das Wort Trauma
war völlig unbekannt, denkt er, damals in Husum, Ende der 50er. Er erinnert sich
an seine ängstliche Mutter und seinen wortkargen Vater, der Granatsplitter hinter
den Narben mit sich herumschleppte und seine kaputte Hand nicht richtig bewegen
konnte. Ein russischer Scharfschütze hatte ihm eine Sehne zerschossen. Beim Zusammenflicken
im Lazarett war sie verkürzt geblieben. Auf seine neugierigen Fragen gab es immer
nur die stereotype Antwort: »Das kann man nicht erzählen!«
Manchmal,
auf beschwingten Familienfeiern, durchbrach der Vater das Nachkriegsvakuum, wenn
Bagatellen ihn urplötzlich in Jähzorn versetzten. Manchmal schloss er sich beleidigt
im Schlafzimmer ein und ging dann ohne ein Wort der Erklärung wieder zur Tagesordnung
über.
Swensen
sitzt im dunklen Raum, schaut durch das Fenster in den vom Mondlicht beschienenen
Garten. Draußen bläst ein starker Wind, rüttelt an den Bäumen, pfeift um das Haus,
dass es im Gebälk stöhnt und knarrt. Der heutige Tag steckt ihm in den Knochen,
er fühlt sich müde, das Denken beginnt schwer zu fallen. Es gibt keinen Impuls für
sein tägliches Ritual, sich aufs Kissen zu setzen und zu meditieren. Stattdessen
schlurft er ins Bad, putzt die Zähne und liegt keine 20 Minuten später ausgestreckt
auf dem Bett. Er sinkt hinab in das Unbewusste des Schlafs. Mitten in der Nacht
bricht ein Gewitter los. Ein krachender Donnerschlag reißt ihn aus dem Tiefschlaf.
Regen prasselt an die Scheiben. Es steht eine drückende Luft im Raum. Er wälzt sich
hin und her, und es dauert eine Ewigkeit, bis er vom fernen Donnergrollen begleitet
in eine Art Halbschlaf zurückfällt. Draußen bleibt es unruhig, das Gewitter kehrt
langsam zurück. Es sind Einschläge in der Nähe zu hören, dann folgen rasselnde Geräusche,
wie von Panzerketten. Ein Maschinengewehr bellt los. Die Panzer schießen zurück.
Granatenexplosionen lassen das Erdreich aufspritzen. Er liegt mit Karl im Schützengraben,
neben der Brücke, die sie bis zum letzten Mann verteidigen sollen. Hinter den geborstenen
Mauern schleicht eine Gestalt durch den Pulverdampf, kommt hinter einem brennenden
Panzer hervor und brüllt: »Give up, stop shooting! We don’t
fight kids! Go home or go to kindergarten! Go home! Kindergarten!«
Karl beginnt
zu feuern, zerfetzt den Bauch des Amerikaners, der wimmernd in den Staub stürzt
und sich in Schmerzen windet.
»Schieß
doch, Karl, mach ihn tot!«, hört Swensen sich voller Verzweiflung rufen. »Karl,
schieß doch! Karl, schieß doch!«
Swensen
spürt nackte Panik, reißt die Augen auf,
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