Donnerstags im Park - Roman
George in ihre Privatsphäre eindringen würde, überkam, zu unterdrücken. Sie musste Rücksicht auf Chanty nehmen, sagte sie sich.
Jeanie verfluchte Weihnachten, ein Fest, das sie ihr Leben lang gehasst hatte. In ihrer Kindheit war ihr Vater in der Zeit davor unerträglich gewesen, weil er die Chance witterte, neue Schäfchen für seine Kirche zu werben. Von Mitte November an waren sie auf Zehenspitzen durchs Haus geschlichen, und wenn Reverend Dickenson dann am Weihnachtsmorgen endlich die Kanzel betrat, war es der Familie, die sich fast täglich beim Abendessen die Entwürfe hatte anhören müssen, egal, wie die letzte Version seiner Predigt lautete. Sie war nur noch froh, das Martyrium für dieses Jahr hinter sich gebracht zu haben.
»Wenn du bei mir wohnst, wird einer von uns auf dem Sofa schlafen«, platzte Jeanie heraus, die sofort ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie so gemein war.
»Bin ich dir so zuwider, dass du nicht mal ein paar Nächte das Bett mit mir teilen kannst?« George klang schockiert, aber er nahm sich zusammen und bemühte sich um einen fröhlicheren Tonfall.
»Na schön, dann werfen wir eben eine Münze, wer das Bett kriegt«, sagte er und versuchte es mit einem Lachen. »Weihnachten ist an einem Freitag; ich könnte am Donnerstag kommen und am Montag wieder fahren.«
Vier Nächte, rechnete Jeanie aus. Wie würde sie das nur aushalten?
»Bist du denn nicht einsam, wenn du dich die ganze Zeit in der Wohnung vergräbst?« Rita wartete im Mantel, während Jeanie sich anzog, um mit ihr ins Swiss Cottage Odeon zu gehen.
»Nicht direkt einsam«, antwortete Jeanie nach kurzem Überlegen. »Eher traurig. Manchmal weine ich, aber vermutlich nicht aus Einsamkeit. Ich sehne mich nicht gerade nach Gesellschaft.«
Sie weinte nicht manchmal, sondern an den meisten Abenden, nicht nur, weil sie an das dachte, was mit Ray möglich gewesen wäre, sondern auch aus Trauer darüber, was sie vielleicht mit George verloren hatte. Dazu kam die Erinnerung an ihre eigene Familie, die den Tod ihres Bruders Will nie richtig verarbeitet hatte.
Nach diesem traumatischen Ereignis hatten sie und ihre Eltern sich getrennt in ihrem Schmerz vergraben. Anfangs hatte Jeanie noch versucht, mit ihnen zu reden und zu trauern, jedoch weder ihren Vater noch ihre Mutter jemals weinen sehen. Ihre Mutter war vor ihren Augen verkümmert. Ihre Neurosen waren im Angesicht der echten Katastrophe verschwunden; diese früher stets nörgelnde, hektische Frau hatte kaum noch gesprochen. Also hatte Jeanie sich ihrem Vater zugewandt, der sich ein permanentes glückseliges Lächeln zulegte; sicher, so erklärte er, habe der Herr ihn für dieses Martyrium auserwählt. »Will ist nicht vor der Zeit von uns gegangen, das darfst du nicht glauben, Jean«, hatte er mit vor religiösem Eifer funkelnden Augen erklärt. »Fünfzehn Jahre waren die ihm zugedachte Lebenszeit. Länger konnte Gott ihn nicht entbehren. Wir brauchen nicht um ihn zu trauern, er ist bei Gott. Besser ein kurzes Leben in Würde als eines ohne. Wir sollten niederknien und dem Herrn jede Minute des Tages danken, dass Will überhaupt unter uns weilen durfte.«
Jeanie, die damals knapp vierzehn gewesen war, hatte mit dem Fuß aufgestampft und vor Wut aufgeschrien.
»Du täuschst dich, Gott täuscht sich. Ihr seid beide dumme Lügner. Er hätte nicht sterben dürfen, und das weißt du auch. Warum weinst du nicht, Dad? Warum macht es dir nichts aus, dass er fort ist und wir ihn nie wiedersehen werden? Was ist bloß los mit dir?«
Sie war im Glauben an einen wohlwollenden Gott erzogen worden, an einen Gott, der sich um die Kinder sorgte und die Rechtschaffenen segnete. Will, obwohl erst ein Teenager, war ihrer Einschätzung nach rechtschaffen gewesen. Und sanftmütig und witzig und klug und weise. Er hatte nie jemandem etwas getan. Wie konnte Gott einem Kind solches Leid auferlegen? Am liebsten hätte sie vor Kummer laut aufgeheult. Schon das geringste Zeichen der Anerkennung von ihren Eltern hätte ihr genügt. Doch nach dem Tod ihres Bruders schienen diese zu vergessen, dass es sie gab, dass sie selbst existierten. Drei Satelliten umkreisten getrennt voneinander die Erinnerung an ihren geliebten Will und stellten sich nie der Tatsache, dass sie mit seinem Tod ebenfalls gestorben waren. Nun weinte Jeanie noch einmal für sie alle und über den stillen, unausgesprochenen Schmerz, der sich in ihrer Ehe wiederholte.
»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte Rita, als sie die
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