DoppelherzTOD
Vielleicht war beim Tod des alten Paares wirklich nicht alles eindeutig. Wie er vor dem Zimmer der Toten gehört und verstanden hatte, hegte die Mehrzahl der Mitbewohner Zweifel, und Frieder hatte sogar von Mord gesprochen. Wie dem auch sei. Das sollten andere klären. Ehrlicher war außer Dienst.
»Mit dem Hans-Jürgen habe ich ab und an Boule gespielt.« Boule? Der alte Kollege hatte seine Gewohnheiten aber mächtig geändert. Boule kannte man in der DDR so gut wie gar nicht. In französischen Filmen hatte man sich manches Mal über die Männer gewundert, die das Spiel mit den Kugeln so überaus ernst nahmen. »Und abends mal auf ein Bierchen im Pub um die Ecke. Mit dem Hans-Jürgen konnte man reden, der war noch nicht dem Schwachsinn verfallen. Und jemanden braucht man hier, mit dem man auch quatschen kann. Louise Emmerich samt Begleitung eignen sich dazu nicht.« Und der wollte Ehrlicher zu sich hierher ins Heim holen! Jetzt spricht er selbst vom Schwachsinn der Alten. Noch vor Minuten hatte Frieder Hosfeld ganz anders geklungen. Ganz richtig schien der auch nicht mehr zu ticken. Wie hatte Ehrlichers Oma immer gesagt? Altwerden ist kein Segen, mein Junge. Wirklich kein Segen. Bruno machte sich nichts vor, jetzt war er selbst alt. Seine Oma hatte recht gehabt. Hosfelds Recherchemappen lagen noch immer auf dem Tisch. Ehrlicher traute dem Buchprojekt nicht.
Und Hosfeld hatte jetzt anderes im Kopf.
»Nie im Leben haben die beiden sich umgebracht.«
»Warum nicht?« Ehrlicher bemerkte, dass er in den alten Jargon verfiel. Genau in diesem Tonfall hatte er Generationen von Straftätern verhört. Jetzt fragte er seinen Kollegen. Aus Routine vielleicht. Ehrlicher gingen die zwei Toten nichts an. Margot Wendel und Hans-Jürgen Porstmann, er kannte sie nicht. Und dass Frieder Hosfeld sich Gedanken machte, lag wahrscheinlich an seinem Geisteszustand und der Langeweile. Worüber sprachen denn die Insassen des Heims überhaupt den lieben langen Tag lang? Es war nur noch der Tod, der sie interessierte, nicht das Fernsehprogramm oder die Bücher der hauseigenen Bibliothek. Ehrlicher betrachtete den Major a. D. zusammengesunken verschwand der fast in seinem Sessel. Pippo raschelte in seinem Käfig.
Hosfeld sprach mehr für sich, als dass er Ehrlicher etwas erzählte. »Vor zwei Jahren war dem Hans-Jürgen die Frau gestorben, die Meta. Da haben wir uns schon Sorgen gemacht. Der hat ja seine Meta so was von geliebt, glaubste gar nicht, und kam nach deren Tod nicht so recht auf die Beine. Zipperlein hie und Tablette da. Nicht mal zum Mittag ist er im Speiseraum erschienen. Wollte keinen mehr sehen. Die Brigitta und alle Schwestern haben sich liebevoll um ihn gekümmert. Half alles nichts. Und dann kam die Margot. Und das Leben hatte ihn wieder.«
»Ach ja.« Ehrlicher fand sich fehl am Platze. Die Liebesgeschichten alter Menschen langweilten ihn. Und heute würde Hosfeld über das eigene Buch und die Leipziger Leichen nicht mehr sprechen. Ihn beschäftigte offensichtlich der Tod von Hans-Jürgen und Margot. Ehrlicher stand auf und blickte aus dem Fenster. Die Terrasse lag in der kalten Sonne. Ein paar Leute auf den Gartenwegen waren im Gespräch. Ein Streifenwagen der Polizei rollte heran. Die Beamten verschwanden schnellen Schrittes im Haus Roseneck. Im Elsterflutbecken trainierten Kanuten. Eine Kindergartengruppe lief vom Spielplatz wahrscheinlich zu Mittagessen und Mittagsschlaf. Hosfeld rutschte immer mehr in sich zusammen, als würde ihm wie bei einem Ballon die Luft abgelassen. Erstaunliches Phänomen.
»Die wollten im Sommer nach Schweden.«
»Man kann seine Pläne auch ändern.«
»Sicher.« Hosfelds Stimme klang resigniert.
Was nun? Jetzt stand Ehrlicher hier im Haus Roseneck und Kollege Frieder Hosfeld hatte ihn ganz offensichtlich vergessen. Die Todesnachricht hatte ihn aus den gewohnten Gleisen geworfen. Aber Selbstmord im Alter war so ungewöhnlich nicht. Überhaupt führte das Gebiet zwischen Neiße und A9 die Suizidstatistiken an. Keine wissenschaftliche Begründung fand man für die Tatsache. »Die Kollegen werden eine Erklärung für diesen Tod finden, verlass dich drauf.«
»Ich begreife es nicht.« Und Frieder Hosfeld schenkte sich noch einen Stonsdorfer ein. Ehrlicher lehnte ab, er wollte nach Hause.
»Na, ich mache mich auf den Weg. Reden wir ein andermal drüber.« Er tippte auf das gesammelte Material. »Bringt uns vielleicht auf andere Gedanken. Ruf mich an.«
Hosfeld blickte zu Ehrlicher auf.
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