Doppelspiel
Gelände einmal im Zwielicht anzusehen. Seit Miles Mallorys Organisation hier ihr Hauptquartier bezogen hatte, hatte Reggie alles über die Geschichte dieses Ortes gelesen, was sie hatte finden können. Ursprünglich hatte sich eine mittelalterliche Burg an der Stelle erhoben, wo heute das Herrenhaus stand. Die umliegenden Ländereien waren das Lehen des wohlhabenden Burgherrn gewesen, eines schwer gepanzerten Ritters, jederzeit bereit, falls nötig ein, zwei Schädel mit seinem Schlachtbeil zu spalten.
Später war die Burg dann geschleift worden, und an ihrer Stelle hatte man das Haus gebaut. Das Feudalsystem war abgeschafft worden, und die Ritter hatten ihre Rüstungen abgelegt und ihren Bauern statt mit dem Schwert mit dem Schuldschein gedroht. Das Land war über Generationen hinweg im Besitz ein und derselben Familie geblieben bis hin zu entfernten Vettern der ursprünglichen Eigentümer, deren Einkommen jedoch nicht mehr für den Erhalt des Gutes gereicht hatte. In den beiden Weltkriegen hatte Harrowsfield – Reggie hatte nie herausgefunden, woher der Name kam – als Lazarett gedient. Anschließend hatte es mehrere Jahrzehnte lang leer gestanden, bis die Regierung sich gezwungen gesehen hatte, es zu übernehmen und die notwendigsten Reparaturen durchzuführen. Dann hatte Mallory den Ort entdeckt und es irgendwie organisiert, dass er ihn benutzen durfte. Nach außen hin handelte es sich lediglich um einen informellen Versammlungsort für exzentrische Akademiker, deren Arbeit genauso esoterisch wie harmlos war.
Reggie kam an zu Säulen gestutzten Buchsbäumen vorbei und roch ihren leichten Uringestank. Obwohl der Frühling sich bereits seinem Ende zuneigte, wehte ihr eine kühle Brise in den Rücken. Reggie schloss ihre verschlissene Lederjacke, die einst ihrem älteren Bruder gehört hatte. Zum Zeitpunkt seines Todes war er zwar erst zwölf Jahre alt gewesen, aber schon über sechs Fuß groß. Am Boden zerstört hatte die kleine Reggie sich damals in eine Ecke verkrochen und sich die Jacke über den Kopf gezogen. Seitdem hütete sie sie wie einen Schatz. Doch auch heute noch fühlte sie sich bei der Erinnerung so zerbrechlich wie Glas.
Nachdem Reggie eine Viertelmeile weit gegangen war, öffnete sie die Tür von dem, was einst das Gewächshaus des Anwesens gewesen war. Der Geruch von Torf, Mulch und verrottenden Pflanzen stieg ihr in die Nase, obwohl schon seit Jahrzehnten kein Gärtner mehr hier gewesen war. Sie ging an Glassplittern und losen Brettern vorbei, die aus der Decke gefallen waren. Schatten fielen in alle Richtungen, als die Sonne sich immer höher über die englische Landschaft erhob, und die kühle Brise wurde sogar noch kälter, als sie durch kleine Öffnungen in Fenstern und Wänden pfiff und die Spinnweben in diesem verfallenden Gartenparadies flattern ließ.
Reggie erreichte eine Doppeltür in der Ecke des Gebäudes. Sie steckte ihren Schlüssel in das schwere Vorhängeschloss, öffnete die Tür und zog an der Kette, mit der die Glühbirne an der Decke eingeschaltet wurde. Einen Augenblick später wurde der Gang, den sie betrat, schwach beleuchtet, und der starke Geruch von feuchter Erde stieg ihr in die Nase. Reggie wurde leicht übel. Der Boden war unbefestigt. Sie ging fünfzehn Schritt und in einem Winkel von zwanzig Grad nach unten; dann wurde der Tunnel wieder eben. Reggie hatte keine Ahnung, wer ihn in die Erde gegraben hatte und warum, aber er war praktisch.
Sie erreichte das Ende des Gangs, wo ein paar Matratzen an der Wand lagen. Es gab auch einen kleinen Tisch. Papier stapelte sich darauf, und daneben stand ein kleiner, batteriebetriebener Ventilator. Reggie nahm sich das oberste Blatt und befestigte es mit einer Klammer an einer Kordel, die zwischen den beiden Seitenwänden des Tunnels hing. Neben dem Papierstapel lagen mehrere Gehörschutze und Schutzbrillen. Reggie legte sich einen Gehörschutz um den Hals und setzte eine Schutzbrille auf.
Auf dem Papier war das geschwärzte Bild eines Mannes zu sehen mit schwarzen Ringen darum herum. Reggie ging dreißig Schritt zurück, drehte sich um, zog die Pistole aus dem Holster, prüfte, ob sie geladen war, setzte den Gehörschutz auf, nahm ihre bevorzugte Schießhaltung ein, zielte und leerte das komplette Magazin. Die Lüftung war schlecht hier unten, und der brennende Gestank des Pulvers stieg ihr in die Nase. Von der Druckwelle der Schüsse gelöst rieselte Dreck zwischen den alten Brettern heraus, die die Tunneldecke bildeten.
Weitere Kostenlose Bücher