Doppelspiel
Geschichte, Professor, ihre Schrecken .«
Whit war verwirrt. »Habe ich hier irgendwas verpasst? Das Ganze war doch in den Dreißigern. Aber wenn dieser Waller – oder Fedir Kuchin oder wie auch immer er heißt – erst dreiundsechzig ist, dann war er damals doch noch gar nicht geboren.«
Mallory faltete die Hände. »Glauben Sie etwa, der Völkermord hat aufgehört, nur weil Stalin gestorben ist, Beckham? Das kommunistische Regime hat noch Jahrzehnte überdauert, nachdem dieses Monster seinen letzten Atemzug getan hat.«
»Und da kommt dann auch Fedir Kuchin ins Spiel, korrekt?«, sagte Reggie leise.
Mallory lehnte sich zurück und nickte. »Er ist schon in jungen Jahren zur Armee gegangen und rasch aufgestiegen. Er war ungewöhnlich klug und gnadenlos, und schon bald orientierte er sich in Richtung Geheimdienstarbeit. Schließlich trat er in die Geheimpolizei ein, wo er bis in eine Position aufstieg, die ihm despotische Macht verlieh. Das war zu der Zeit, als die Rote Armee in Afghanistan gegen ihren Untergang ankämpfte. Dazu kam, dass zur gleichen Zeit sowjetische Satellitenstaaten wie Polen ihre Freiheit einforderten und auch nicht damit aufhören wollten, bis der Kommunismus gestürzt war. Kuchin erhielt direkt aus dem Kreml den Befehl, alles zu tun, um jedwede Opposition zu zerschlagen. Und während seine Vorgesetzten die Lorbeeren kassierten, war er derjenige, der dafür sorgte, dass Kiew auf einer Linie mit Moskau blieb. Und fast hätte er auch dauerhaft Erfolg damit gehabt.«
»Wie das?«, wollte Whit wissen.
Zur Antwort öffnete Mallory seine Aktenmappe und winkte den anderen, es ihm gleichzutun. »Bitte, lesen Sie den ersten Bericht, und schauen Sie sich die dazugehörigen Bilder an. Wenn das Ihre Frage nicht beantwortet, dann weiß ich auch nicht.«
Mehrere Minuten lang herrschte Stille im Raum. Nur dann und wann war ein Schnappen nach Luft zu hören, wann immer jemand ein Foto sah. Schließlich schloss Reggie die Akte wieder, und ihre Hand zitterte ein wenig. Sie hatte schon vielen zweibeinigen Monstern gegenübergestanden, doch das Böse im Menschen erschreckte sie bisweilen immer noch. Sie hatte Angst, irgendwann selbst ihre Menschlichkeit zu verlieren … Manchmal glaubte sie sogar, das sei längst geschehen.
»Kuchin hat seine eigene Version des Holodomor durchgezogen«, bemerkte Whit mit leiser Stimme. »Nur hat er nicht Hunger, sondern Gas benutzt sowie Gift in der Wasserversorgung, und er hat Tausende von Menschen in Gruben gejagt, wo sie bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Der Bastard.«
»Und Kuchin hat auch die Sterilisation Tausender von jungen Mädchen organisiert«, fügte Reggie hinzu. Die feinen Falten um ihre Stirn vertieften sich, als sie das sagte. »Sie sollten keine männlichen Kinder mehr bekommen, die irgendwann gegen die Sowjets kämpfen könnten.«
Mallory tippte auf die Akte. »Und hundert weitere Grausamkeiten kommen noch dazu. Wie es bei so verschlagenen Menschen oft der Fall ist, hat Kuchin den Fall der Sowjetunion lange vor seinen Vorgesetzten vorausgesehen. Er hat seinen Tod fingiert und ist nach Asien geflohen. Von dort ging es dann nach Australien und schließlich nach Kanada, wo er sich mit gefälschten Papieren und einem Charisma, das seine sadistische Natur verdeckt, ein neues Leben aufgebaut hat. Die Welt sieht ihn als einen ehrlichen und ungewöhnlich erfolgreichen Geschäftsmann und nicht als den Massenmörder und Verbrecher, der er wirklich ist. Wir haben drei Jahre gebraucht, um diese Akte zusammenzustellen.«
»Und wo ist er jetzt?«, fragte Reggie, den Blick fest auf ein Foto gerichtet, das sie aus der Akte geholt hatte. Es zeigte ein freigelegtes Massengrab mit kleinen Skeletten, alles Kinder.
Mallory zündete sich seine Pfeife an, und eine stinkende Rauchwolke stieg über seinen Kopf. »Diesen Sommer wird er die Ferien in der Provence verbringen, in einem kleinen Städtchen mit Namen Gordes, um genau zu sein.«
»Ich frage mich, wie sich das wohl anfühlen wird«, sagte Reggie zu niemandem im Besonderen.
»Wie sich was anfühlen wird, Reg?«, hakte Whit neugierig nach.
Reggie schaute noch einmal auf das Bild mit den kleinen Knochen. »Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlen wird, an einem so schönen Ort wie der Provence zu sterben.«
Kapitel sieben
D as lange Meeting war vorbei. Es dämmerte bereits, doch Reggie hatte noch immer viel zu tun. Sie schlich sich aus dem baufälligen Gebäude und nahm sich ein paar Minuten Zeit, um sich das
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