Doppelspiel
Bibliotheksleitern liefen an Messingstangen entlang, damit man die Bücher weiter oben erreichen konnte. An der vierten Wand wiederum hingen die Fotos und Porträts von Männern und Frauen, die schon lange tot waren. Den Mittelpunkt des Raums bildete ein großer Kamin, der bis unter die Decke reichte. Es war einer der wenigen im Haus, die noch richtig funktionierten; doch auch aus ihm quoll ständig Rauch in den Raum. Reggie nahm sich einen Moment Zeit, um sich vor den Flammen aufzuwärmen, bevor sie zu den Leuten schaute, die an dem großen Tisch mitten im Raum saßen.
Reggie nickte jedem von ihnen zu. Alle waren sie älter als sie mit Ausnahme von Dominic, der gut ausgeruht wirkte. Schließlich blieb Reggies Blick an dem älteren Mann am Kopfende haften. Miles Mallory trug einen Tweedanzug mit klassischen Ellbogenflicken, eine schief sitzende Fliege, ein zerknittertes Hemd, dessen eine Kragenspitze gen Decke zeigte, und Kniestrümpfe, die viel zu kurz waren, um die fleischigen, kahlen Schienbeine des Mannes zu bedecken. Mallory besaß einen riesigen Kopf und nur noch einen Kranz zotteligen grauen Haars, das schon seit Monaten keine Friseurschere mehr gesehen hatte. Sein Bart hingegen war perfekt gestutzt und passte farblich zu den Haaren mit Ausnahme eines cremefarbenen Fleckens von der Größe eines Pennys am Kinn. Die Augen waren grün und stechend, die Brille davor dick und schwarz, das Kinn breit, der Mund klein und trotzig und die Zähne schief und vom Tabak gelb. Mallory hielt eine kleine Pfeife in der rechten Hand und stopfte sie gerade eifrig mit der widerlichsten Tabakmischung, die man sich vorstellen konnte, um den Raum auch noch des letzten Restes Sauerstoff zu berauben.
»Sie sehen aufgeregt aus, Professor Mallory«, bemerkte Reggie freundlich.
»Wie schon bei unserem jungen Dominic, so möchte ich auch bei Ihnen der Erste sein, der Ihnen zu Ihrer hervorragenden Arbeit in Argentinien gratuliert.«
»Tut mir leid, Prof, da war ich wohl schneller«, sagte Whit, als er den Raum betrat und Reggie eine frische Tasse Kaffee reichte. Der Kaffee dampfte sogar noch, obwohl die Küche fast eine Meile von der Bibliothek entfernt lag.
»Na ja«, sagte Mallory gut gelaunt, »dann bin ich eben der Zweite.«
Reggie trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie hatte es noch nie gemocht, über das zu reden, was sie getan hatte, noch nicht einmal mit Leuten, die ihr dabei geholfen hatten. Doch wenn man jemanden tötete, der so viele Menschen ermordet hatte, dann weckte das nicht die in so einem Fall typischen menschlichen Emotionen. Für Reggie und ihre Kollegen am Tisch hatten diese Menschen durch ihre furchtbaren Taten jegliches Recht auf Leben verwirkt. Sie hätten genauso gut über die Tötung eines tollwütigen Hundes diskutieren können; aber mit diesem Vergleich tat man dem Hund wohl unrecht, sinnierte Reggie.
»Danke«, sagte sie. »Aber unglücklicherweise bin ich sicher, dass Herr Huber trotzdem in Frieden ruhen wird.«
»Das wage ich stark zu bezweifeln«, erwiderte Mallory steif. »Das Höllenfeuer ist bestimmt nicht angenehm.«
»Wenn Sie das sagen. Theologie war noch nie meine Stärke.« Reggie setzte sich. »Aber wie auch immer, Huber ist Geschichte. Machen wir einfach weiter.«
»Ja«, sagte Mallory eifrig. »Ja. Genau. Machen wir einfach weiter.«
Whit grinste schelmisch. »Dann schauen wir mal, ob wir das Monster noch mal reiten können, ohne von ihm zertrampelt zu werden.«
Mallory nickte der schlanken, blonden Frau zu seiner Rechten zu. »Liza, wenn Sie so freundlich wären.«
Liza verteilte dicke Umschläge mit Kopien von Dokumenten, die von roten Gummibändern zusammengehalten wurden.
»Wissen Sie, Prof«, sagte Whit, »all das könnte man auch auf einen USB-Stick und von dort auf unsere Laptops packen. Das ist wesentlich angenehmer, als all das Zeug in meinem Kofferraum zu bunkern.«
»Laptops können verloren gehen, Daten beschädigt oder gar gestohlen werden. Ich glaube, das nennt man ›Hacken‹«, erwiderte Mallory leicht verärgert, aber auch mit der Unsicherheit von jemandem, für den Computer ein ewiges Rätsel bleiben würden.
Whit hielt den Umschlag hoch. »Na ja, Papier kann man auch klauen, und unauffällig ist das auch nicht gerade … besonders wenn man zehn Kilo von dem Zeug mit sich herumschleppt.«
»Wenden wir uns also der Arbeit zu«, erklärte Mallory brüsk und ignorierte den Kommentar. Er hielt das Foto eines älteren Mannes in den Sechzigern in die Höhe. Der
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