Doppelspiel
sofort gekauft; doch Reggie würde nie das Geld dafür besitzen.
Reggie blieb hier oft über Nacht. Da sie ohnehin nie schlafen konnte, pflegte sie dann stundenlang durch das dunkle Haus zu wandern. In diesen Augenblicken glaubte sie auch, die Gegenwart anderer zu fühlen, die Harrowsfield einst ihr Heim genannt hatten, auch wenn sie nicht mehr unter den Lebenden weilten. Sie hätte gern hier gewohnt. Ihre Wohnung war klein, spartanisch eingerichtet und lag in einem wenig beliebten Teil der Stadt; trotzdem kostete sie mehr, als sie sich leisten konnte. Reggie musste sich mit solchen Luxusgütern wie Essen und Kleidung einschränken, um über die Runden zu kommen. Ihren Beruf hatte sie sich definitiv nicht wegen der Verdienstmöglichkeiten ausgesucht.
Reggie parkte vor dem alten Kutschenhaus, das nun Garagen und eine Werkstatt beherbergte, und sah, dass bereits mehrere Leute vor ihr eingetroffen waren. Mit ihrem Schlüssel öffnete sie die Tür des Schmutzraums, und eine kleine Glocke ertönte. Einen Augenblick später kam ein breitschultriger, muskulöser Mann Mitte dreißig aus dem angrenzenden Raum. In der einen Hand trug er eine Tasse Tee, und in der anderen hielt er eine 9-mm-Pistole, deren Lauf er auf Reggies Brust richtete. Er trug eine enge Cordhose, ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und elegante schwarze Slipper, aber keine Socken, obwohl es in Harrowsfield selbst im Sommer kühl war. Seine dichten schwarzen Augenbrauen trafen sich in der Mitte fast, und sein zotteliges braunes Haar fiel ihm weit über die Stirn.
Als der Mann Reggie sah, steckte er die Waffe wieder weg, grinste und nippte an seinem Tee. »Hey, Reg«, sagte Whit Beckham, »du hättest dich melden sollen, als du durchs Tor gefahren bist. Ich hätte dich fast abgeknallt, und dann hätte ich wochenlang nichts als Ärger gehabt.« Im Laufe der Jahre, da Reggie ihn kannte, hatte Whit seinen harten irischen Akzent schon ein wenig abgelegt. Inzwischen brauchte sie sogar keinen Übersetzer mehr … meistens jedenfalls.
Reggie zog ihre Jacke aus und hängte sie an einen Wandhaken. Sie trug eine ausgeblichene Jeans, einen burgunderroten Rollkragenpullover und schwarze Stiefeletten. Ihr Haar hatte wieder seine normale dunkelbraune Farbe und wurde im Nacken von einer Klammer gehalten. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und als sie nun ins Licht trat, das durch die Fenster fiel, konnte man feine Falten um ihre Augen sehen, obwohl sie erst achtundzwanzig war.
»Mein Handy hat hier noch nie funktioniert, Whit.«
»Dann ist es wohl an der Zeit, dass du dir einen neuen Provider suchst«, riet Whit ihr. »Tee?«
»Kaffee. Je stärker, desto besser. Es war ein langer Flug, und ich habe nicht viel geschlafen.«
»Schon unterwegs.«
»Toll. Danke. Ist Dom hier? Ich habe sein Motorrad nicht gesehen.«
»Ich glaube, er hat es in einer der Garagen abgestellt. Und es ist kein Motorrad.«
»Was dann?«
»Eine ›Sackrakete‹. Das hat was mit den PS zu tun und so, weißt du?«
»Jaja, wie interessant. Männer und ihre Spielzeuge.«
Whit schaute sie besorgt an. »Alles okay mit dir?«
Sie täuschte ein Lächeln vor. »Klar. Ich habe mich nie besser gefühlt. Es wird mit jedem Mal leichter.«
Whit legte die Stirn in Falten. »Das ist Scheiße, und das weißt du.«
»Ach ja?«
»Vergiss nicht, dass Huber ein paar hunderttausend Menschen ermordet hat und sechzig Jahre lang nicht dafür zur Verantwortung gezogen worden ist.«
»Ich habe das Briefing auch gelesen, Whit.«
Whit rümpfte die Nase. »Wie auch immer … Vielleicht solltest du dir mal ein wenig freinehmen, um deinen Akku aufzuladen.«
»Mein Akku ist voll. Der lange Flug und ein paar Drinks waren alles, was ich gebraucht habe. Ich habe Herrn Standartenführer Huber schon vergessen.«
Whit grinste. »Nicht dass du mir plötzlich durchdrehst.«
»Keine Sorge. Aber nett, dass du an mich denkst. So … Wer ist nun hier?«
»Die üblichen Verdächtigen.«
Reggie schaute auf ihre Uhr. »Geht’s früh los?«
»Wir haben einen neuen Job. Da ist jeder aufgeregt.«
»Mich eingeschlossen.«
»Bist du dir wirklich sicher?«
»Jetzt lass mich doch mal. Hol mir einfach den verdammten Kaffee.«
Kapitel sechs
R eggie ging durch Flure, die nach Schimmel rochen, bis sie eine große Doppeltür erreichte, in die Bilder von Büchern eingraviert waren. Reggie öffnete einen der beiden Türflügel und betrat die Bibliothek. Drei Wände waren bis oben hin mit Regalen vollgestellt, und
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