Doppeltes Spiel (German Edition)
Unfall gehabt. Was war geschehen?
»Was hat er? Liegt er im Krankenhaus?«
»Nein, nicht mehr«, erwiderte Charlot. »Bitte, Lysette. Kommen Sie schnell.«
»Ich komme«, sagte sie kurz entschlossen. »Der Zug nach Paris fährt ...«
» Non, non «, unterbrach Charlot sie erleichtert. »Wir haben - es liegt ein Ticket für Sie am Schalter der Air France. Der Flug geht um 13:00. Schaffen Sie das?«
Lysette schluckte. Sie hasste das Fliegen. Oder vielmehr: sie hatte höllische Flugangst. »Ja, das schaffe ich«, sagte sie heiser.
»Großartig. Sie müssen in Paris umsteigen. Ich hole Sie in Avignon am Flughafen ab.«
Die Verbindung war unterbrochen, ehe Lysette noch einmal fragen konnte, wie es Nicholas ging. Sie sah auf die Uhr. Um Eins ging das Flugzeug? Sie musste sich sputen.
Lysette überstand den Flug nach Paris und den darauffolgenden Anschlussflug nach Avignon, indem sie sich fest an ihre Armlehnen klammerte und an Nicholas dachte. Sie rief sich in Erinnerung, wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte: braungebrannt von seiner Arbeit im Weinberg, in der Lederjacke mit den hochgekrempelten Ärmeln, aus denen seine muskulösen Unterarme schauten, die langen Beine in ausgeblichenen Jeans, wie sie mit langen Schritten vor ihr herliefen. Das spöttische Zwinkern der hellen Augen, das dichte silberne Haar, das sich so weich anfühlte wie Vogelfedern. Der Mund, der so verschlossen und hart wirken konnte und der so sanft und zärtlich ihre Fingerspitzen geküsst hatte. Das Lachen, das aufblitzte wie Sonnenreflexe auf fließendem Wasser. Die tiefe, ruhige Stimme. Die erschreckenden Momente, in denen Zorn sein Gesicht verdunkelte oder jähe, heiße Wut darin aufflammte.
Sie dachte an das Gefühl seines harten, schweren Körpers, der sie gegen das Waschbecken drückte. Ihre Hände, die in sein weiches Haar packten und über seine breiten Schultern strichen. Die brennende Begierde, die seine Lippen auf ihrem Mund auslöste.
Lysette schnappte nach Luft, und ihre Nachbarin, eine ältere Dame, beugte sich zu ihr und sagte tröstend: »Gleich sind wir unten, mein Kind. Keine Sorge, das ist eine ganz normale Landung. Ich fliege sehr oft und ich lebe noch, sehen Sie?« Sie tätschelte besänftigend Lysettes Hand.
Charlot wartete wie versprochen in Avignon auf sie. Sie stand ein wenig verloren mit ihrem kleinen Koffer in der Halle, als er winkend und rufend auf sie zugelaufen kam: »Lysette, hier! Oh, ich freue mich so! Geben Sie mir Ihren Koffer, bitte.«
Er führte sie zum Auto und redete dabei unablässig auf sie ein. Lysette, die mit einem Mal todmüde war, unterbrach seinen Redeschwall und fragte: »Wie geht es Nicholas?«
»Er lebt noch«, antwortete Charlot und öffnete die Wagentür. »Wir haben ihm nicht gesagt, dass Sie kommen. Die Aufregung wäre zu viel für ihn.«
Lysette sah ihn misstrauisch an. »Charlot, Sie sagen mir nicht die Wahrheit. Was verschweigen Sie mir?«
Er fuhr los und antwortete nicht, weil er, wie er zu verstehen gab, viel zu beschäftigt damit war, sich in den Verkehr einzufädeln. Erst, als sie Avignon hinter sich hatten, warf er Lysette einen um Entschuldigung bettelnden Seitenblick zu. »Ich habe ein wenig gelogen, ja. Aber es war eine Notlüge, Lysette.«
»Also gab es keinen Unfall?«, fragte Lysette erleichtert.
»Doch, doch. Der patron hatte einen üblen ... ah, wir sind ja gleich da. Wollen Sie nicht ein wenig schlafen? Sie sehen müde aus.«
Lysette war wirklich müde. Sie gab es auf, Charlot noch etwas zu entlocken, das sie ohnehin in einer knappen halben Stunde selbst sehen würde, denn allem Anschein nach fuhren sie nach Villes sur Auzon.
Sie schrak auf, als Charlots Handy klingelte und er »Ja?« sagte. Er lauschte, dann sagte er: »Ja, sie ist bei mir. Ja. Einen Moment.« Er reichte Lysette das Handy, und sie drückte es ans Ohr.
»Madame Kelling? Lysette?«, hörte sie eine Frauenstimme. »Geneviève hier. Ich freue mich, dass Charlot sie hat überreden können.«
»Madame Gaillard«, stammelte Lysette. »Ich wusste nicht, dass Sie ...« Sie unterbrach sich. Wer hatte wohl die Flugtickets bezahlt - Charlot?
»Wie ich ihn kenne, hat er Ihnen irgendein Schauermärchen aufgetischt«, hörte sie die Tante sagen. »Er kann es einfach nicht lassen. Aber wenn es seinen Zweck erfüllt hat - gut. Meine Liebe, Sie haben uns ganz schön an der Nase herumgeführt, Sie und Ihre schreckliche Schwester. Es war allerdings ein wenig feige von Ihnen, einfach so
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