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Dorfpunks (German Edition)

Dorfpunks (German Edition)

Titel: Dorfpunks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rocko Schamoni
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hoch und versteckte dann das Seil unter meinem Bett.
    Am nächsten Morgen machten meine Eltern einen Riesenaufstand. Wie waren sie darauf gekommen, dass ich nachts unterwegs gewesen war? Ich rätselte und leugnete, bis Mama mich an der Hand nahm und in den Garten zog. An der strahlend weiß gekalkten Wand führten schwarze Turnschuhabdrücke direkt zu meinem Fenster im zweiten Stock.

Eine neue Familie gründet sich
    Ich lehnte an unserem Gartenzaun und guckte den Mädchen beim Reiten zu. Auf der Straße sah ich Josie vorbeilaufen, den Typen aus dem Nachbardorf, mit dem ich bei AC/DC gewesen war. Er zog einen großen D-Böller aus der Tasche, zündete ihn an und warf ihn zwischen die reitenden Mädchen. Entsetzt starrten die auf ihr zischendes Schicksal, sie wussten, was gleich passieren würde. Die Ponys nicht. Eine Sekunde später taten sich alle sehr stark weh.
    Josie kam etwa ein Jahr später auf die Idee, sich Fliegevogel zu nennen, aber ich nenne ihn ab jetzt schon so, weil ich den Namen gut finde. Fliegevogel war ein Action-Tier. Ihm war nichts zu blöde oder zu gefährlich, er hatte keine natürlichen Hemmungen oder Bremsen, er war wie gemacht fürs «Scheißebauen». Wir verabredeten uns oft um Mitternacht am Stadtteich, wo es ein Nadelgesträuch gab, in das man hineinkriechen konnte, um sich vor Polizeiblicken zu schützen. Der jeweils Erste von uns wartete dort. Wenn der andere kam, trampten wir los zu Meier’s, man stand nie länger als eine Viertelstunde. Meistens nahm uns irgendein Besoffener mit, der kaum noch steuern konnte, zu Meier’s fuhr man nicht nüchtern. Einmal hielt ein grüner Volvo an. Meine Mutter saß darin, im Nachthemd. Ihr Blick war unendlich enttäuscht, und als sie mich nach meiner Rechtfertigung fragte, rutschte ihre Stimme wie so oft leicht ins Hysterische. Sie nahm mich mit nach Hause, während ich ihr Lügen von einer «schönen Nachtwanderung» auftischte. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass ich einen Großteil meiner Nächte bei Meier verbrachte. Ich war ein jugendlicher Jekyll and Hyde, hin und her gerissen zwischen zwei komplett unterschiedlichen Welten. Tagsüber Schule und nachts die Disco.
    An unserer Schule erweiterte sich der Punkkreis mittlerweile schnell. Dieser Jugendvirus war hoch infektiös. Man brauchte nicht viel, um dabei zu sein, man musste nur die Codes lernen und ein bisschen mutig und zeigefreudig sein. Geld spielte keine Rolle, sozialer Status oder Intelligenz waren egal, Schönheit oder Sportlichkeit überflüssig. Wir waren Ausgestoßene von eigenen Gnaden. Ich wähnte mich von meiner leiblichen Familie abgelehnt, fühlte mich anders als sie, anders als alle, ein Antikörper in der großen Gesellschaft der Gleichen.
    Depressionen zogen wie dunkle Wolken über den ehemals blauen Himmel meiner Seele; mit der Pubertät fing es in mir an zu regnen. Ein Regen, der nicht wieder aufhörte. Regen. Löcher, überall Löcher. Unbestimmter Hass, Angst, unendliche Selbstzweifel und dann auch der Gedanke an Selbstmord als letzten, versöhnlichen Ausweg, wenn alles andere gar nicht mehr zu ertragen war. Jeden Tag dachte ich zigmal daran; das war meine virtuelle Beruhigungstablette. Die Depressionen teilte ich mit den anderen Elenden unserer Dropout-Gang.
    Die Gang war von Anfang an meine Ersatzfamilie. Was ich zu Hause nicht mehr finden konnte, hier bekam ich es. Gespräche über Freiheit, Wildheit, Sex und Musik. Die anschließende Leere, weil das Ersehnte meistens nicht zu haben war, machten wir durch gemeinsames Abhängen erträglich. Wir waren Leidensbrüder unter der gewaltsamen Knute der Langeweile. Der Spießigkeit einer Kleinstadt. Der inneren Leere. Unsere Tage brachten wir im Haus der Jugend am Kicker rum, oder wir hingen auf dem Marktplatz ab. Unser Wissen über Punkrock, über die richtigen Bands, Styles, Benimmregeln wuchs immens und wurde von uns um eigene Ideen erweitert. Die Regeln einer eigenen Gesellschaft. Spezialwissen einer Sekte. Der Sekte der tödlich Gelangweilten. Antiregeln und Regeln, die so taten, als wären sie keine. Wir zogen die jugendlichen Mistfliegen unserer Kleinstadt an wie ein frischer Kuhhaufen. Einige waren stockdoof, andere clevere Teacher. Zum Beispiel David. Er war groß, spindeldürr und vollkommen gaga. Er trug kurze Haare mit ein paar herausstehenden Strähnen à la Malaria oder Mania D, hautenge Satinhosen und viel zu große zerrissene Jacketts. Meistens saß er zu Hause und zeichnete, las Bücher und hörte

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