Dorn: Roman (German Edition)
setzten die Nordmänner einen Schritt vor den nächsten. Unter Lias Führung wandelten sie staunend durch die Stadt.
Schließlich bedeutete uns Lia vor einem Haus zu halten. Es besaß eine prunkvolle überdachte Veranda, deren Stützen nach oben hin zu spitzen Bögen zusammenliefen. Geschnitzte Efeuranken wanden sich an jeder von ihnen hoch. Das Gebäude selbst war sehr offen gebaut und mehrere Stockwerke mit vielen Terrassen schmiegten sich an die Seite eines gras- und laubbedeckten Hügels, den man durch viele große Türen des Hauses betreten konnte.
Eine Elbin, die in ein langes, weißes Kleid gehüllt war, trat barfuß auf die Terrasse. Ihre Augen weiteten sich, als sie Lia erblicke.
»Mavenna«, verbeugte sich die Prinzessin vor der Elbenfrau, deren Augen seltsam alterslos erschienen.
Auch sie fand ihre Stimme wieder, nachdem sie den Nollonar berührt hatte und sie wechselte mit Lia einige Worte in der elbischen Sprache – der gebrauchte Wortschatz überstieg meinen bei Weitem und so war ich erstaunt, als Lia mich hinzubat.
»Dies sind die gonilin meagaren , die Gärten des Heils«, erklärte sie mir. »Ich möchte, dass du in Mavennas Obhut bleibst, bis wir von meinen Eltern zurückkehren.«
»Aber … ich muss mit deinen Eltern sprechen«, protestierte ich. »Das Eherne Reich ist auf die Hilfe der Elben angewiesen, ich kann mich erholen, wenn ich-«
Durch eine einzige sanfte Berührung meines Arms unterbrach Lia mich. Ja, dies hier war ihr Zuhause, hier besaß sie Macht, Stärke und eine natürliche Autorität. Jeder konnte es spüren.
»Du wirst mit ihnen sprechen«, sagte sie sachte und mit einem milden Lächeln auf ihren Zügen. »Aber du bist niemandem auf dieser Welt eine Hilfe, wenn du verletzt und erschöpft bist. Gib Mavenna einen Tag und sie wird dir helfen, neue Kräfte zu sammeln.«
Ich spürte instinktiv, das jeder weitere Einwand sinnlos war. Hilfesuchend blickte ich mich nach Leonhrak um, doch der nickte verständnisvoll.
»Du hast tapfer für jene gekämpft, die dir etwas bedeuten, Bruder. Gib deinem Körper diesen einen Tag Zeit!«
Ich spürte eine weitere Berührung, diesmal an meiner Hand, und blickte auf. Mavenna hatte mich bei der Hand genommen.
»Komm, aven ammaiah «, sagte sie. »Was auch immer dir noch bevorsteht, du wirst deine Kräfte brauchen.«
Freund der Elben , hatte sie mich genannt. Ich wusste, dass man mir womöglich keine Wahl lassen würde. Und so ließ ich mich in die Gärten entführen, deren Geheimnisse meiner harrten.
Erneut erwachte ich aus einem tiefen Schlaf. Der warme Wind Quainmars spielte sanft mit meinen Haaren, während ich die Muster der Decke über mir betrachtete. Honiggelbes Abendlicht durchströmte alles um mich.
Ja, ich erinnerte mich wieder. Die Elbin Mavenna hatte mir ein warmes Bad bereitet und meine Nordmannskleidung gegen elbische Hosen und Obergewänder getauscht. Schließlich hatte sie mich zu einem Pavillon inmitten eines Gartens geleitet und mir einen süßlichen Tee zu trinken gegeben. Offenbar ein Beruhigungsmittel.
Mir fiel auf, dass der Verband über meinem linken Auge fort war. Behutsam tastete ich nach der Wunde. Über dem Auge teilte ein Schnitt meine Braue in zwei Hälften und zog sich unter dem Auge fort. Alles fühlte sich wulstig und verschorft an, und der Schmerz pochte als dumpfer Begleiter gegen die Stellen. Ich hatte eine Menge Glück gehabt, dass mir mein Augenlicht geblieben war. Der Schnitt an meiner Schulter sah gar nicht mal so schlimm aus, aber mein durchstochenes Handgelenk war stark mit blütenweißen Stoffbahnen bandagiert. Noch wusste ich nicht, wie es um meine linke Hand in Zukunft stehen würde.
Es kam mir eigenartig vor, im Freien auf einem Bett zu liegen. Nicht, dass ich in den letzten Wochen nicht ausreichend im Freien übernachtet hätte – aber eben nicht auf einem Bett. Ich setzte mich auf und fand meine Sachen auf einem Beistelltischchen. Und oben auf meiner Nordmannkleidung lag das, was mich am meisten interessierte. Ein Brief.
Vor meiner Abreise in Richtung meines Schicksalstreffens mit Schekich hatte Airi einen Brief zu uns gebracht, den ich nicht mehr hatte lesen wollen, in der Befürchtung, die Nachricht könnte mir das moralische Genick brechen.
Und es war die richtige Entscheidung gewesen, wie ich feststellen sollte. Ungelenk und mühsam faltete ich ihn auseinander. Meine verletzte Hand war mir dabei mehr im Weg als eine Hilfe:
Lieber Deckard,
Es dringen Gerüchte zu mir vor, Du
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