Dorn: Roman (German Edition)
Verwundert ließ ich ihn kommen. Serion von Gamar konnte es wohl kaum sein, denn das Konklave tagte wie gewohnt am Vormittag und stritt sich mit erschöpftem Elan darum, wer künftig König oder Königin werden sollte.
Ein Schrecken durchzuckte mich von oben bis unten, als mir der Gedanke kam, es könnte der Elb Linus sein. Ich vergewisserte mich, dass die beiden Wachen im Raum aufpassten und dass Erlenfang locker genug in seiner Scheide saß.
Doch derjenige, den die Wachen von draußen hineinließen, war kein Elb. Es war Prinz Leonhrak.
»Guten Morgen«, grüßte er mich. Es war so steif, so abweisend, dass es mir beinahe das Herz in der Brust zerriss.
»Guten Morgen, Prinz Leonhrak«, sagte ich förmlich. Seit unserer Unterredung gestern hatte ich ihn nicht mehr gesehen.
»Du hast deine Meinung nicht geändert über Nacht?«
Ein letzter Keim von Hoffnung blitzte in seinen von Falten umrandeten Augen auf.
Ich schüttelte den Kopf. Es tat mir unendlich leid. »Ich kann nur wiederholen, was ich dir gestern bereits gesagt habe: Es liegt nicht in meiner Macht, Leonhrak. Vieles, aber das nicht.«
Er schlug resigniert die Augen nieder.
»Du musst den Ausgang des Konklaves abwarten«, versuchte ich ihm weiter Hoffnung zu machen. »Ich bin sicher, wenn Ellyn von Gamar-«
Als mich der Blick des Prinzen traf, blieben mir die Worte im Hals stecken. Ich hielt ihm einen kurzen Augenblick stand, dann sah ich weg, hinaus aus dem Fenster. Wenn ich zu lange in diese verzweifelten alten Augen sah, würden sie mich vernichten. So viel stand fest.
»Ich kann nicht warten«, hörte ich ihn sprechen. »Es kann jederzeit geschehen. Und wenn es soweit ist, dann stehe ich an der Seite meiner Leute.«
Ja, das klang nach einem stolzen Nordmann. Verdammt, es klang sogar nach mir. Würde ich nicht dasselbe tun, wenn Falkenberg eine solche Gefahr ins Haus stünde?
»Wir werden heute Nachmittag noch abreisen, Deckard.«
Ich atmete hörbar schwer ein.
»Das musst du wohl tun.«
Mehr konnte ich dazu schlichtweg nicht sagen.
Unsere Blicke begegneten sich erneut. Prinz Leonhrak nickte mir höflich zu, drehte sich um und verschwand so aufrecht, wie es ihm als alter Mann nur möglich war.
»Sanfte Wege«, murmelte ich enttäuscht.
Der Abgang des Prinzen stimmte mich traurig und diese Traurigkeit verflog auch nicht über den Vormittag, während ich über dem schriftlichen Gesuch eines Reeders brütete, in dem er eine angeblich innovative neue Handelsroute für Salzlieferungen vorschlug. Aber das Ganze roch verdächtig nach dem Versuch, eine Monopolstellung installieren und dafür den königlichen Segen einholen zu wollen. Es war strittig formuliert und die Minister waren sich uneins, nur deswegen war das Papier überhaupt auf dem königlichen Schreibtisch gelandet. Ich lehnte es schließlich ab.
Auch das Wetter trug nicht wesentlich zur Besserung meiner Laune bei. Das Licht hatte aufgrund einer dünnen Wolkendecke einen fahlen Farbton angenommen. Es wirkte beinahe als wäre der Herbst im Anmarsch. Der Sommer wurde wohl übersprungen in diesem Jahr. Kein guter Gedanke.
Nachdem die tägliche Sitzung des Konklaves beendet war, fand sich nach und nach jeder, den ich einbestellt hatte, im Arbeitszimmer des verstorbenen Königs ein.
Mein getreuer Freund und Hauptmann Hermelink war da, Großmeister Amondo ebenfalls und Lemander brachte Lia mit, die auch hier die Nollonin in ihrem Rucksack nicht außer Acht ließ. Die Wachen schickte ich hinaus. Ich wollte nicht mehr Ohren im Raum haben als notwendig.
»Gab es im Anschluss an den Vorfall gestern noch weitere Dinge, die man wissen sollte?«, fragte ich den Großmeister des Ordens, doch der verneinte.
Lia hingegen hatte sich ganz den verschiedenen Papieren, die quer über den riesigen Schreibtisch verstreut lagen gewidmet. Sie mussten für sie eine seltsame, bezaubernde Schönheit ausstrahlen. Wieder irgend so eine Sache, die nur sie mit ihrem elbischen Hintergrund wirklich verstand und wahrscheinlich für all ihre menschlichen Bekannten stets ein Rätsel bleiben würde. Sie wirkte verloren hier zwischen lauter Menschen. Komisch, dass ich es bisher nie so gesehen hatte. Wir waren nun etwas über eine Woche hier und ich hatte Lia vor lauter Pflichten beinahe vergessen. Dabei hatte ich sie doch mitgenommen, weil ich ihr das Versprechen gegeben hatte, mich um ihre Angelegenheit zu kümmern.
Ich holte tief Luft, als ob ich die Worte schmerzhaft hinauspressen musste.
»Wer ist Linus?«,
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