Dorn: Roman (German Edition)
fuhren wir schneller als jeder Bote ritt, doch nicht so schnell wie der Flug der Brieftauben. Irgendwer würde es also früher oder später irgendwie wissen. Doch vor Wilnfurt gab es keine Siedlung oder Stadt mehr am breiten Strom der langen Ronar, wo man uns hätte aufhalten können. Und Wilnfurt war bereits eine der fünf Freien Städte.
Wir verbrachten also Tag und Nacht auf dem Schiff.
»Es ist nicht gut, dass du trinkst«, sagte Lia, die neben mir an der Reling stand und deren schwarzes Haar ihr um das Gesicht wehte. Sie hatte einen geliehenen Umhang aus grober Wolle um, weil sie nichts anderes als ein Alltagskleid mit aus der Hauptstadt hatte nehmen können. Auch Lemander und ich hatten uns Umhänge und Kleidung leihen müssen.
»Nichts ist mehr gut«, entgegnete ich ein wenig lallend. »Ich habe alle enttäuscht. Dich, mich und alle anderen in diesen verfluchten Landen.«
Lia schüttelte energisch den Kopf. »Nein, aber der Alkohol lässt dich noch viel tiefer in deiner Trauer versinken.«
»Man sollte trauern dürfen«, brabbelte ich vor mich hin. Es war schlichtweg egal, aber ich wollte jetzt nicht belehrt werden. Auch Lias tieftraurigen Blick übersah ich geflissentlich.
»Aber nicht so«, hauchte sie leise und verschwand irgendwohin mittschiffs.
In den kommenden beiden Tagen ließ sie mich allein mit meiner Trauer, während wir uns zielstrebig der Grünen Weiche näherten, jenem Punkt, an dem Lange und Kurze Ronar auseinanderflossen. Die Kurze Ronar war ein nicht minder beachtlicher Strom, nur war er insgesamt kürzer geraten, denn er mündete bereits bei Balien, der Hauptstadt Lilienbachs, in einer inselbesetzten Bucht ins Meer.
Der Himmel am Morgen war bleiern grau, keine Spur eines sich nähernden Sommers war in Sicht. Kalt war es obendrein. Ich verkrümelte mich gerade wieder in Richtung Bug, als Lemander mir hinterherkam.
»Meinst du nicht, es reicht langsam?«, fragte er besorgt.
»Was?«
»Trübsal blasen.«
»Was soll ich denn stattdessen tun?«
Lemander versuchte nach dem Metschlauch zu greifen, aber ich zog ihn weg.
»Deckard!«, mahnte er. »Hör auf, deine Trauer im Rausch zu ertränken! Niemandem ist damit gedient.«
»Ach. Womit ist denn überhaupt irgendwem gedient? Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«
»Erstmal hörst du auf, gar nichts zu tun, außer schlechte Stimmung zu verbreiten!«
»Ich habe nichts zu tun«, redete ich mich in Rage. »Bei den Göttern. Irgendwer hat mich durch irgendeine Scheiß-Intrige zum Verräter gemacht. Meine Freunde sind tot oder gefangen oder harren in Falkenberg einer ungewissen Zukunft. Und zu allem Überfluss schipper’ ich mit zwei Dutzend Verlorener dem Untergang im Norden entgegen. Sag mir, Lemander, was soll ich tun?«
Ich holte Luft, merkte, dass das gesamte Schiff verstummt war, während meiner kleinen Wutrede.
»Lass dich nicht so hängen!«, konterte Lemander dann, seine Stimme ebenfalls erhebend. Hier war er nur ein alter Mann unter alten Männern, aber in seinen Augen funkelte auf einmal Zorn. »Warum glaubst du denn, hat Amondo uns aus deiner sogenannten Scheiß-Intrige irgendwie mit heiler Haut rausgeholt? Ganz gewiss ist er selbst dabei auch noch draufgegangen. Dass du hier tagein tagaus in Depressionen verfällst, hat er sicher nicht gewollt. Das hättest du auch in den Verliesen von Anselieth gekonnt. Sehr viel besser sogar, denn dort hätte dich niemand dabei beobachten müssen, wie du zugrunde gehst.«
Er schnaubte – und ich wandte den Blick ab. Die Enttäuschung in seinem Blick war nicht zu ertragen.
Jemand tippte mir von hinten auf die Schulter. Es war Brimbart, der erste Maat des Schiffes. Ein wirklich massiger Kerl mit Oberarmen so dick wie manch junger Baum, der einen gemütlichen Bauch vor sich hertrug. Sein Bart war voll und üppig, aber schneeweiß. Trotz des Alters, das ihm anhing, hatte Brimbart den Blick eines treuen Hundes. Selbst in dem Zustand, in dem er sich befand, hätte ich vermutlich körperlich keine Chance gegen ihn gehabt. Und das wusste er. Ohne ein Wort hielt er mich fest und pflückte den Schlauch voll Met aus meiner Hand.
»Das reicht jetzt, Graf!«, murmelte er. Es klang monoton, beinahe herzerweichend betrübt. Dann hängte er sich den Schlauch um die breiten Schultern und machte sich auf den Weg in Richtung Heck.
Na wunderbar! , brach sich der Sarkasmus in mir Bahn. Also gab es ab jetzt auch keinen flüssigen Trost mehr.
Ein schriller Schrei war dicht über dem Schiff zu
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