Dorn: Roman (German Edition)
vernehmen. Diverse Blicke richteten sich nach oben. Airi, das Falkenweibchen, mit dem Lemander Freundschaft geschlossen hatte, war aus dem grauen Himmel herabgestürzt und landete elegant auf der Reling.
»Hallo, meine Gute!«, begrüßte mein Reisegefährte sie. »Wie schön, dich wiederzusehen.«
Der Falke ließ ein Pfeifen vernehmen und der stechende Blick des Vogels traf mich wie ein Pfeil.
»Airi!«, hörte ich Lia hinter mir. Die Elbin klatschte begeistert in die Hände und stolperte über das Schiff auf den Vogel zu. Airi machte ein keckerndes Geräusch und ließ sich schließlich von Lia sanft über das schwarz-braun gescheckte Gefieder streicheln. Der Falke reckte den Kopf, um sich den Hals kraulen zu lassen.
Applaus kam von den Nordmännern, die dem Umgang mit dem gefährlichen Tier großen Respekt zollten.
»Sie war lange fort«, meinte Lia versonnen.
»Ja«, entgegnete Lemander. »Die große Stadt ist nichts für sie. Sie hat mich nur wenige Male besucht, stets dann, wenn es dunkel war draußen. Und nach unserer überstürzten Abreise musste sie wohl erst wieder Witterung aufnehmen.«
»Du kannst nicht ernsthaft mit dem Vogel sprechen, oder?«, fragte ich.
Es klang etwas abschätziger, als ich wollte.
Airi beantwortete meine Frage mit einem respekteinflößenden Fauchen, zu dem sie die Flügel spreizte und mir einen Blick zuwarf, der mich glatt hätte durchbohren können.
»Ich wäre ja vorsichtig mit solchen Behauptungen«, schmunzelte Lemander.
»Indes …«. Er hielt inne und schlug sich mit der Hand vor die Stirn: »Jetzt, wo Airi wieder da ist, weiß ich, was du tun kannst, Graf.«
Ich sah ihn unschlüssig an.
»Das erste, was du tun wirst: Du wirst einen Brief verfassen. Airi kann ihn zielgerichtet überbringen – wir sind auf keinerlei Boten oder gar dämliche Brieftauben angewiesen.«
Papierkram – das klang genau nach dem, was ich auf keinen Fall tun wollte.
»Keine Sorge«, erstickte Lemander etwaige Einwürfe meinerseits im Keim. »Wir haben Papier und Tinte an Bord, wie ich erfreut feststellen durfte.«
Ich stöhnte. Offenbar kam ich nicht darum herum. »An wen hättest du gerne einen Brief verfasst?«
»Oh«, zwinkerte Lemander. »Ich denke, das dürfte dich interessieren: Ich möchte, dass du an Ellyn von Gamar schreibst.«
Widerwillig tauchte ich den Federkiel in das kleine Tintenfass. Lemander hatte es mit etwas geschmolzenem Wachs auf einer flachen Truhe befestigt, die mir als improvisiertes Schreibpult diente. So konnte es nicht vom Geschaukel des Schiffes umgeworfen werden.
Die ersten Zeilen fielen mir schwer. Nicht nur wegen des schaukelnden Schiffes, sondern auch wegen des Alkohols. Doch dann schrieb ich einfach. Klein und eng, bis in die Ecken des Papierbogens, um keinen Platz zu verschwenden. Ich beschrieb alles haargenau, wie es mir widerfahren war: Von meinen Ehr- und vor allem Pflichtgefühlen; von Lias Ankunft in Falkenberg und von der ersten Begegnung mit Schekich; von der Reise nach Anselieth und dem zweiten Aufeinandertreffen mit Schekich bei den Mooskindern; von meiner Sicht auf das Konklave; von den Harjennern und von Minelglain dem Grauen; von den seltsamen, schattenhaften Geschehnissen, die sich um Linus, den elbischen Berater Serions, rankten; von dem vermeintlichen Verrat und der Flucht.
Ich ließ aus, wohin wir unterwegs waren – zwar mochte ich die Grafentochter sehr, aber ich konnte ihr nicht vollständig und bedingungslos vertrauen, so sehr ich es auch wollte. Serion war immer ein aufbrausender Mann gewesen, der, auch wenn er über ein gewisses Maß an Scharfsinn verfügte, nicht sonderlich reflektiert und weitsichtig war. Ich kannte seine Tochter zwar noch nicht lange genug, doch sie schien nicht so sehr unter dem Einfluss ihres Vaters zu stehen, wie vielleicht zu befürchten gewesen wäre. Dennoch war die ganze Situation verzwickt. Irgendwie hatte Linus es geschafft, sich trotz Serions stets bekundeter Abneigung gegen Elben einen Platz als Berater an dessen Seite zu sichern – ich konnte letztlich nur mutmaßen, was Ellyn über all das wusste oder dachte. Als ich fertig war, faltete Lemander den Briefbogen und band ihn zu einer kleinen Rolle zusammen. Airi krallte sich das Stück Papier und machte sich mit einem erneuten Kreischen auf und davon in Richtung Hauptstadt.
»Sie nimmt ihn einfach so mit?«, wunderte ich mich, dass der Vogel den Brief nicht ans Bein gebunden bekam, wie eine Brieftaube.
»Wenn du auf Brieftauben
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