Dornenkuss - Roman
anders ging es nicht. Mein erster Flieger würde am frühen Nachmittag starten, ich hatte noch ein bisschen Zeit, obwohl ich nicht wusste, wie ich überhaupt nach Lamezia Terme gelangen sollte. Es war kein Auto mehr da. Ich würde trampen müssen.
Das Packen meiner Tasche überforderte mich schon nach wenigen Sekunden; in meinem Schrank sah es aus, als hätten sich wilde Tiere durch meine Kleider gewühlt, ich fand kaum etwas Brauchbares, und was ich fand, passte nicht zusammen, die meisten Sachen waren ungewaschen und salzverkrustet, die Farben ausgebleicht und die Säume zerfranst. Nachdem ich die Kleider mit beiden Händen aus den Schrankfächern gefegt und ausgebreitet hatte, suchte ich eine einigermaßen saubere Krempeljeans und ein schwarzes Shirt heraus, zog beides trotz der Hitze an, stopfte Unterwäsche zum Wechseln in meine Tasche und kroch erschöpft auf mein Bett, wo ich liegen bleiben wollte, bis ich wieder stabil genug war, um mich auf zwei Beinen zu bewegen. Bis ich wieder denken konnte. Oben an der Tankstelle machten immer wieder Lkw-Fahrer Rast; einer von ihnen würde mich bestimmt mitnehmen.
Mit halb geschlossenen Augen streckte ich mich lang aus, gestattete meinem Körper mit über der Brust gefalteten Händen seine Ruhe, nach der er so heftig verlangt hatte, und wartete darauf, dass die Temperaturen über 35 Grad stiegen und ich zu leben begann.
D ER G ÖTTER I RRFAHRT
»This is our last call.«
Noch einmal hielt ich die Hände unter den Hahn, damit das Wasser zu laufen begann, und reckte mein Gesicht in das lauwarme Rinnsal, während ich mich mit den Ellenbogen auf dem Beckenrand abstützte; Balance nur noch auf den Zehen, die Beine angewinkelt. Ich wollte nicht mit den Knien auf den Boden sinken wie eine Büßerin; genauso wenig wollte ich mich zu meiner vollen Größe aufrichten und in den Spiegel über mir schauen müssen, ich hatte Angst, dort etwas zu erblicken, was ich noch nicht kannte, irgendetwas in meinem Gesicht, das entstanden war, ohne dass ich es gespürt hatte. Solange ich mich nicht sah, würde ich die Situation kontrollieren können.
Ich musste mich wieder in den Griff bekommen. Beim Abflug nach Rom hatte ich zu weinen begonnen, ein epileptisches, trockenes Schluchzen ohne Tränen, das meinen gesamten Oberkörper schüttelte, während meine Beine akkurat nebeneinander auf dem Sitz positioniert waren, die Füße fest in den Boden gestemmt und die Arme um meinen Leib geschlungen. In dem Moment, als die Motoren des kleinen Charterfliegers zu dröhnen angefangen hatten, war mir plötzlich bewusst geworden, dass ich mich von Angelo entfernte; ich reiste fort, hatte ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen, wie sollte ich ohne ihn zurechtkommen? Wie sollte ich auch nur einen Schritt ohne seine beruhigende Gegenwart machen und nicht dabei fallen? Ich hatte keine Ahnung, wann und wie ich zurückkehren würde, vielleicht kam er von seinem Auftritt nach Hause und dachte, ich wäre heimgereist, ja, und vielleicht würde das Wetter umschlagen und Regen ins Land ziehen und nichts mehr da sein, was ihn noch hielt. Er würde früher nach Bora Bora aufbrechen, warum auch bleiben? Niemand hielt ihn.
Ich brauchte ihn, jetzt und sofort. Es war nicht das übliche Gefühl, jemanden zu vermissen und sich nach ihm zu sehnen, nein, keine launenhaften Gefühle, sondern die Gewissheit, dass ich einen gewaltigen Fehler machte, mich von ihm zu entfernen. Es war beinahe ein Verrat, für den ich bestraft werden würde, ich wusste es, bestraft vom Schicksal. Ich musste ihn an meiner Seite haben, anders ging es nicht.
In meiner Panik hatte ich versucht, meinen Gurt zu lösen, weil ich ins Cockpit laufen und die Piloten zur Umkehr überreden wollte, doch der ältere Mann neben mir sah nur erstaunt dabei zu, wie meine Finger immer wieder abrutschten. An den einfachsten Dingen scheiterten sie. Statt mir zu helfen, rief er eine Stewardess herbei, die sich mit besorgter Miene über mich beugte und mir ins Gesicht sah, was ich nicht wollte, niemand sollte mir ins Gesicht sehen. Sie schaute rasch wieder weg, blieb aber stehen und prüfte meinen Gurt, den ich nicht lösen konnte, es klappte nicht.
»Are you okay, everything okay?«, fragte sie mit einem falschen, ängstlichen Lächeln.
Auf einmal hatten alle Angst. Stimmen erhoben sich, sie diskutierten aufgeregt, was sie von mir halten sollten, ob ich etwas im Schilde führte, möglicherweise trage ich einen Sprengsatz bei mir, eine Bombe,
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