Dornenkuss - Roman
geworden. Ich befand mich im Felsen … Schwarzes Gestein umschloss mich.
Das Plätschern des Wassers war hier nur noch gedämpft zu hören, doch das Rauschen befand sich nun dicht vor mir, es floss in meine Adern und wallte in meine Lungen, bis mein Organismus im Gleichklang mit ihm arbeitete, alles synchron, die Bewegungen meiner Eingeweide, das Pumpen meines Blutes, die Schläge meines Herzens, eine wunderschöne Harmonie, einträchtiges dunkelrotes Pulsieren.
Mit einem letzten Aufbäumen hob ich meinen Kopf und blickte hoch. Das Wesen vor mir saß auf dem blanken Steinboden seiner Höhle, die Füße unter dem Leib verborgen, der Oberkörper gerade, aber entspannt. Es war klein und beinahe zierlich, im Stehen würde es mir allenfalls bis zur Schulter reichen, doch seine Aura war so präsent und bezwingend, dass ich mich verbeugt hätte, wenn ich nicht schon vor ihm gelegen hätte wie eine gestrandete Meerjungfrau.
Das Rauschen kam aus ihm, aus seiner Brust. Es brach sich an den Wänden der Höhle und kehrte wieder zurück, um sich mit sich selbst zu vervielfachen, doch es verlor nie seinen einschläfernden, hypnotischen Rhythmus.
Ich konnte nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war; es trug die Haare kurz, ähnlich der Frisur, wie ich sie aus meinen alten Lateinbüchern kannte, von den Steinbüsten antiker Diktatoren, die in Museen standen und keine Pupillen in den Augen hatten. Doch seine Augen wollte ich nicht ansehen. Ich verfing mich an seinem feinen, sensiblen Mund, musterte seine leicht gebogene Nase, bewunderte die Gelassenheit in seinen Schultern und seine kleinen, zarten Hände, die nicht zu den sehnigen Muskeln in seinen Armen passen wollten, ein einziges Gemisch aus weiblich und männlich, es verwirrte mich, aber es erfreute mich auch.
Ich kroch zu ihm, um mein Gesicht auf seine Oberschenkel zu legen, die von einem weißen Gewand bedeckt waren, weiß wie das Laken meines Bettes, doch es nahm mich bei meinen Schultern und zog mich hoch. Das Rauschen verebbte.
»Hilf mir, mein Kind … Hilf mir.«
Mein Kind? Es zwang mich, ihm in die Augen zu sehen, hellblau wie der Morgenhimmel kurz vor Sonnenaufgang, aber es war nicht ihre Farbe, die meine Brust aufbrechen ließ, bis das Salz des Meeres in winzigen Kristallen von meiner Haut sprang und als glitzernder Diamantenstaub auf den Boden rieselte. Es war die Art und Weise, mit der sie mich anschauten. Augen, denen ich immer vertraut hatte, Augen, die die Helligkeit nicht mochten und mich nach meinen dunkelsten Albträumen getröstet hatten … Augen, die mich aus Tausenden heraus erkannt hätten, mit einem einzigen Blick. Ich hatte sie so lange nicht mehr gesehen.
Dazu sein Mund, sein Lächeln – nein, es war ihr Lächeln. Ihr Lächeln, wenn sie sich über meine Widerspenstigkeit mokierte und trotzdem keinen Zweifel daran ließ, dass sie sie mochte und sogar stolz auf sie war, ihr Lächeln konnte mahnend und verständnisvoll in einem sein oder sogar mit mir schelten, ohne dass es mich je zu beleidigen versuchte, manchmal lächelte sie auch nur, weil ich da war und neben ihr stand und lebte … denn ich war ihr Kind …
Ich war ihr Kind. Ich hatte Eltern. Ich hatte einen Vater und eine Mutter. Sie schauten mich an und fragten mich, wo ich geblieben war. Wo war ich geblieben?
Ich hatte sie vergessen.
Ich hatte meine eigenen Eltern vergessen.
Weinend sank ich in seinen Schoß, ließ es zu, dass seine Hände das weiße Gewand behutsam über meine bebenden Schultern zogen und meine Lider schlossen, um unserem Meister Einlass zu gewähren und an meiner Seite zu wachen, während ich in tiefschwarzer Nacht nachholte, was ich mir wochenlang verwehrt hatte.
Meinen Schlaf.
I N M ORPHEUS ’A RMEN
In den ersten Sekunden des Erwachens wusste ich gar nichts mehr. Ich wusste nicht, wo ich war, warum ich hierhergekommen war, welche Tages- und Jahreszeit herrschte, und auch nicht, was in den Stunden zuvor geschehen war. Ich konnte mich nur noch schemenhaft an das Wesen erinnern, auf dessen Knien ich immer noch lag und dessen gleichmäßiges Rauschen verhinderte, dass der Schlaf sich zu schnell davonstahl. Er löste sich langsam und nachsichtig von mir, ich hatte jederzeit die Möglichkeit, es mir anders zu überlegen und ihn zum Bleiben zu bitten, damit ich wieder ins Nichts hinabtauchen konnte.
Das wollte ich nicht, aber noch war ich nicht bereit, meine Augen zu öffnen und mich mit der Gegenwart zu konfrontieren. Meine Lider mussten sich ausruhen,
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