Dornenkuss - Roman
süditalienische Krankenhaus einweisen und zwangsernähren zu lassen, fügte ich mich und nahm die wenigen Mahlzeiten zu mir, die Gianna mir bringen durfte. Mit abgewandtem Kopf wartete ich, bis sie das Tablett auf meinen Nachttisch gestellt hatte und wieder gegangen war. Erst dann setzte ich mich auf und löffelte im Dunkeln. Oft verspürte ich starken Durst und starrte stundenlang die Wasserflasche auf dem Boden neben meinem Bett an, bis ich mich dazu überwinden konnte, sie zu öffnen und an meine Lippen zu halten.
In einer der ersten Nächte war ich aufgewacht, weil Colin an meiner Bettkante saß. Ernst und vielleicht sogar ein wenig besorgt, aber ohne Vorwürfe oder Anschuldigungen in seinem schwarzen Blick sah er mich an. Er hatte wieder ein Gesicht, ein Gesicht, das ich lieben und anfassen und dessen Züge ich mit meinen Lippen nachzeichnen wollte. Ich hatte Hilfe suchend nach seiner kühlen Hand gegriffen und seine langen Finger an meine verweinte Wange gedrückt. Nach einer kurzen Weile hatte er sie mir wieder entzogen und war lautlos verschwunden.
Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich konnte sein Verhalten nachvollziehen, wahrscheinlich war es seine Art gewesen, mir Adieu zu sagen, nachdem ich alles zwischen uns niedergetrampelt hatte in meinem heillosen Wahn. Trotzdem glaubte ich, ab und zu seine Aura wahrzunehmen und auch einen wärmenden Hauch auf meinen kalten Armen – kalt, weil ich mich vor der Sonne versteckte und zu wenig aß und trank –, aber das war wohl nur ein Wunschtraum, abgespeicherte Erinnerungen, die mich für immer begleiten und verhindern würden, dass ich vergaß, was ich getan hatte.
Jetzt war Paul zu mir gekommen, ohne mich um Erlaubnis zu bitten, und hatte mir seinen Brief vorgelesen, damit Papas Worte mich trösteten, was schlimm genug war. Doch nun weinte er ebenfalls. Experiment gescheitert.
»Ellie, Schwesterchen … irgendwann implodiert deine Nase, wenn du so weitermachst.«
»Ich kann nicht aufhören.«
»Weil du dir keine Chance gibst. Du kannst nicht dein Leben lang in diesem Zimmer bleiben. Dieses Einsiedlerdasein macht das, was geschehen ist, nicht besser. Hey, komm mal her …« Er rückte zu mir, zog mich aus meinem Kissen hoch und nahm mich in den Arm. »Wir haben es alle geahnt, ja, fast schon gewusst. Mama hat es gewusst, Gianna war sich beinahe sicher, ich mir sowieso. Wir hatten nur keine Gewissheit, keinen Beweis. Aber wie hätte er in diesem Hexenkessel je überleben können?«
»Ich habe darin überlebt. Außerdem weine ich nicht nur, weil ich traurig bin. Ich bin auch sauer.« Mit der Faust schlug ich eine Kerbe in mein tränenfeuchtes Kopfkissen. »Wie konnte er das tun? Wenn er doch wusste, wie gefährlich es war? Wie konnte er mir diese Karte in den Safe legen und mich hierherlocken, nach Süditalien, wie konnte er mich mit seiner Nachfolge beauftragen? Und dann das mit Gianna … das … das war manipulativ! Findest du nicht? Ich bin wütend auf Papa, echt wütend, ich will ihm das alles an den Kopf werfen und gleichzeitig … wie darf ich überhaupt wütend auf ihn sein? Er ist nicht mehr da!«
»Ach, Ellie …« Paul lächelte nachsichtig. »Ich bin eigentlich ganz froh, dass er Giannas Visitenkarte in den Safe gelegt hat. Er hat es ja nicht böse gemeint.«
»Er hat mich in die Irre geführt!«, klagte ich vorwurfsvoll, als könne Paul etwas dafür. »Ich verstehe ihn nicht. Einerseits hat er gehofft, dass ich seine Nachfolge aus purem Trotz nicht antrete …«
»Hattest du es denn vor?«, unterbrach Paul mich.
»Nein. Ehrlich gesagt, nein. Mein erster Gedanke war, dass Papa nicht mehr ganz klar im Kopf ist, als ich seine Botschaft las.«
»Siehst du. War also gar nicht so verkehrt.«
»Aber warum dann diese Europakarte? Warum das dicke, fette Kreuz in Süditalien? Er musste gewusst haben, dass dort Mahre leben, zumindest Tessa und Angelo … Und warum kein Kreuz auf Santorin? Wo Morpheus lebt, der uns nichts tut und auf unserer Seite ist? Verstehst du das?«
»Nein«, gab Paul zu. »Nein, das kapiere ich auch nicht. Vielleicht hat er Angelo für harmlos gehalten. Immerhin hast du das auch.«
Ich schnaubte entrüstet. »Dann bleibt aber immer noch Tessa.«
»Von der du sowieso wusstest. Okay, Ellie, ich stimme dir zu, es ist seltsam … Aber wir können ihn jetzt nicht mehr danach fragen. Vielleicht ist die Karte versehentlich im Safe gelandet.«
»Versehentlich? Und gleichzeitig mauert er den Schlüssel bei dir
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