Dornenkuss - Roman
gerechnet, dass es seine infantile Seite wachkitzeln würde, wenn er ein Mädchen auf seinem Rücken durch die Nacht schleppte. Erst fing er an zu rennen, dann wie ein Pferd zu galoppieren, Sprünge einzulegen und unvermittelt Zirkel zu drehen oder Haken zu schlagen, bis ich mich kreischend an seinem ausrasierten Stiernacken festklammerte.
Am Strand ließ er mich fallen wie einen Sack Zement.
»Mensch, lach doch mal, Sturm!«
»Ich kann nicht …«
»Lachen, hab ich gesagt!«, schrie er mich an. »Du sollst lachen, nicht immer nur rumpiensen und jammern und dir in die Hosen scheißen, das hier ist dein Leben, also steh auf und lach! Jetzt!«
»Verdammt, mein Vater ist tot!« Ich brüllte so laut, dass mir davon beinahe übel wurde. »Mein Vater ist tot, verstehst du das nicht? Es gibt nichts mehr zu lachen, mein Vater ist tot, er ist tot, tot, tot, tot!« Meine Stimme jagte über das Meer und wieder zurück, brachte mein Herz zum Vibrieren und meine Nerven zum Zittern. »Er ist tot!« Ich hieb meine Fäuste in den Sand, bis die Haut an meinen Händen aufriss. »Er ist tot.«
Lars ließ mich gewähren, sah nur stumm zu, wie ich tobte, heulte und fluchte, bis er sich neben mich in den Sand setzte und meine Hände ergriff.
»Ist ja gut. Ist doch alles gut«, brummte er, als ich schluchzend gegen ihn sackte, und tätschelte meinen Hinterkopf. »So kenn ich dich. Das ist meine Sturm. Zeternd und wütend. Das ist schon viel besser als Rumpiensen. Steh auf. Komm schon, mein Schatz. Aufstehen.« Lars griff unter meine Achseln, erhob sich und zog mich dabei mit einem Ruck auf die Füße. Ich weinte ohne Tränen, den Kopf hängend und die Arme schlaff.
»Heian Shodan.« Nun war es kein Befehl mehr, sondern ein Ratschlag. Ein heiliger Ernst lag in diesen zwei Worten. Ich hörte auf zu schluchzen, richtete mich auf und straffte mein Kreuz, wie damals in der schäbigen Turnhalle, in der Lars mich Tag für Tag geknechtet hatte – und wie auf Trischen, als Colin mich an meine Grenzen schickte und wir uns trotzdem liebten.
Alles war noch da. Jede Bewegung, jede Wendung, jedes Atmen. Es offenbarte sich mir in dem Moment, in dem ich mich entschlossen hatte, es zu versuchen. Ich musste nicht ein Mal nachfragen oder innehalten und überlegen, was als Nächstes kam. Versunken und in konzentriertem Schweigen vollführten Lars und ich unseren Schattenkampf, unterbrochen nur durch unsere Kampfschreie, seiner wie ein Bellen, meiner rau, aber kraftvoll, bis wir synchron zum Stehen kamen und die Brandung kalt unsere Knöchel umspülte.
»Geht doch. Und jetzt ab ins Bett mit dir. Komm mich mal besuchen in Hamburg, dann trainieren wir ein bisschen, ja? Und grüß Blacky von mir. Nacht, Stürmchen. Tut mir echt leid, das mit deinem Papa.«
Er drückte mir einen kratzigen Kuss auf die Wange, schlug mir noch einmal unsanft auf die Schulter und stapfte o-beinig und vor sich hin pfeifend durch den Sand davon. Nachdem ich – lächelnd, nicht weinend – zurück ins Haus gelaufen war, war ich todmüde ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.
Ach, Lars, dachte ich nun, als ich unsere nächtliche Trainingseinheit Revue passieren ließ. Du lieber, bescheuerter Gorilla. So dumm war er nicht, wie ich anfangs gedacht hatte. Ich zweifelte zwar daran, dass er auch nur einen Hauch von dem begriffen hatte, was oben in der Sila passiert war, aber mir auszumalen, wie er Angelos Haus niedergefackelt hatte, war eine rührende Vorstellung. Und wenn er erwischt worden wäre, wäre er für mich eingesessen, ohne auch nur einen Moment zu bereuen, was er getan hatte.
Es war gut, dass er mich entgegen Mamas Ratschlag doch noch aufgesucht hatte. Und es war gut, dass ich die Kata gemacht hatte, zusammen mit ihm. Irgendwann würde ich wieder anfangen zu trainieren. Irgendwann …
Ich döste noch ein Weilchen vor mich hin, bis sich das Tuckern des Volvos wieder näherte, er in unserer Einfahrt hielt und sein Kofferraum übervorsichtig geöffnet und geschlossen wurde.
»Merda«, hörte ich Gianna flüstern, als sie kurz darauf mit einer raschelnden Einkaufstüte an meiner Türklinke hängen blieb. Sie brauchte Minuten, um sie wieder davon zu lösen. Selbst ein Komapatient wäre dabei aufgewacht.
Klapper, klapper, zur Küche, wo sie in einer Schublade wühlte, dann wieder klapper, klapper, zu mir. Sie räusperte sich unterdrückt. Mit einem Auge beobachtete ich, wie die Klinke sich nach unten bewegte und die Tür sich langsam öffnete.
»Happy
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